Die sogenannte „kalte Progression“ ist in den letzten Jahren, als die Lohnabschlüsse in reinen Geldwerten eher mager ausfielen, in aller Munde. Gemeint ist, dass bei gleich bleibenden Tarifstufen eine Lohnerhöhung, die rein der Abgeltung der Inflation dient, auf Grund der Progression zu einer höheren Durchschnittssteuerbelastung führt und damit die Kaufkraft des Lohnes sinkt. Das ist strikt davon zu unterscheiden, dass durch ein gestiegenes Preisniveau die Kaufkraft eines unveränderten Lohnes sinkt. Dieser Effekt hat nichts mit der Progression zu tun und würde etwa auch bei einer Einheitssteuer auftreten.1
Ein Beispiel mit österreichischen Zahlen: Ein Angestellter erhält ein Monatsgehalt von 2.400 Euro brutto. Der Einfachheit halber lassen wir den 13. und 14. Monatsbezug beiseite. Nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge verbleibt von den zwölf Gehältern von 28.800 Euro eine steuerpflichtige Lohnsumme von 23.595,84 Euro. Davon darf der Steuerpflichtige Sonderausgaben- und Werbungskostenpauschale abziehen; verbleiben 23.403,84 Euro. Die ersten 11.000 Euro sind steuerfrei. Für die verbleibenden 12.403,84 Euro ist ein Grenzsteuersatz von 36,5% anzuwenden, der eine Belastung von 4.527,40 Euro ergibt. Nach Abzug von Arbeitnehmer- und Verkehrsabsetzbetrag verbleibt eine Steuerlast von 4.182,40 Euro und ein Nettogehalt von 19.413,44 Euro. In Tabellenform:
Position | Betrag | Anmerkung |
---|---|---|
Zwölf Monatsgehälter | € 28.800 | |
Sozialversicherung, AK etc. | € 5.204,16 | |
Berechnungsbasis Lohnsteuer | € 23.595,84 | |
abzgl. Sonderausgabenpauschale | € 60,00 | |
abzgl. Werbungkostenpauschale | € 132,00 | |
Bemessungsgrundlage | 23.403,84 | |
Tarifstufe bis 11.000 € | € 00,00 | 0,0 % |
Tarifstufe bis 25.000 € | € 4.527,40 | 36,5 % |
abzgl. Arbeitnehmerabsetzbetrag | € 54,00 | |
abzgl. Verkehrsabsetzbetrag | € 291,00 | |
Lohnsteuer | € 4.182,40 | |
Nettogehalt | € 19.413,44 |
Nun nehmen wir aus Illustrationsgründen an, ein Inflationsschock von 4,17% würde durch eine Lohnerhöhung komplett ausgeglichen, so dass der Angestellte nun einen Hunderter mehr im Monat erhält, insgesamt also 2.500 Euro. An diesen Fall denken wohl die meisten, wenn sie die „Kalte Progression“ bekämpfen wollen.
Position | Betrag | Veränderung |
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Zwölf Monatsgehälter | € 30.000 | + 4,17% |
Sozialversicherung, AK etc. | € 5.421,00 | + 4,17% |
Berechnungsbasis Lohnsteuer | € 24.579,00 | + 4,17% |
abzgl. Sonderausgabenpauschale | € 60,00 | — |
abzgl. Werbungkostenpauschale | € 132,00 | — |
Bemessungsgrundlage | € 24.387,00 | + 4,20% |
Tarifstufe bis 11.000 € | € 00,00 | — |
Tarifstufe bis 25.000 € | € 4.886,26 | + 7,93% |
abzgl. Arbeitnehmerabsetzbetrag | € 54,00 | — |
abzgl. Verkehrsabsetzbetrag | € 291,00 | — |
Lohnsteuer | € 4.541,26 | + 8,58% |
Nettogehalt | € 20.037,74 | + 3,22% |
Während vorher die Durchschnittsteuerbelastung des Bruttolohns 14,5% betragen hat, ist sie nun auf 15,1% gestiegen. Das Nettogehalt ist nicht um 4,17%, sondern nur um 3,22% gestiegen. Die Differenz ist die Wirkung der kalten Progression.
Nun ein Rechenbeispiel, bei dem die Tarifstufen, Pauschalen und Absetzbeträge valorisiert werden.
Position | Betrag | Veränderung |
---|---|---|
Zwölf Monatsgehälter | € 30.000 | + 4,17% |
Sozialversicherung, AK etc. | € 5.421,00 | + 4,17% |
Berechnungsbasis Lohnsteuer | € 24.579,00 | + 4,17% |
abzgl. Sonderausgabenpauschale | € 62,50 | + 4,17% |
abzgl. Werbungkostenpauschale | € 137,50 | + 4,17% |
Bemessungsgrundlage | € 24.379,00 | + 4,17% |
Tarifstufe bis 11.458,33 € | € 00,00 | — |
Tarifstufe bis 26.041,67 € | € 4.716,04 | + 4,17% |
abzgl. Arbeitnehmerabsetzbetrag | € 56,25 | + 4,17% |
abzgl. Verkehrsabsetzbetrag | € 303,13 | + 4,17% |
Lohnsteuer | € 4.356,67 | + 4,17% |
Nettogehalt | € 20.222,34 | + 4,17% |
In diesem Beispiel bleibt die Durchschnittslohnbelastung gleich, und auch die Staatseinnahmen — die ja schließlich der eigentliche Zweck der Steuern sind — scheinen trotzdem ihren Anteil zu erhalten.
Es kommt aber noch besser: Denn wenn der Arbeitgeber eine noch höhere Lohnerhöhung gewährt, profitiert der Arbeitnehmer auch hier zum Nachteil des Fiskus von der Indexierung. Denn auch die über die Inflation hinausreichende Lohnerhöhung kommt in den Genuss eines impliziten Inflationsausgleichs, wie wir gleich sehen werden. Wir unterstellen dafür jetzt eine Erhöhung um 8,33% oder 200 Euro im Monat.
Position | Betrag | Veränderung |
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Zwölf Monatsgehälter | € 31.200 | + 8,33% |
Sozialversicherung, AK etc. | € 5.637,84 | + 8,33% |
Berechnungsbasis Lohnsteuer | € 25.362,16 | + 8,33% |
abzgl. Sonderausgabenpauschale | € 62,50 | + 4,17% |
abzgl. Werbungkostenpauschale | € 137,50 | + 4,17% |
Bemessungsgrundlage | € 25.362,16 | + 8,37% |
Tarifstufe bis 11.458,33 € | € 00,00 | — |
Tarifstufe bis 26.041,67 € | € 5.074,90 | + 12,09% |
abzgl. Arbeitnehmerabsetzbetrag | € 56,25 | + 4,17% |
abzgl. Verkehrsabsetzbetrag | € 303,13 | + 4,17% |
Lohnsteuer | € 4.715,53 | + 12,75% |
Nettogehalt | € 20.846,64 | + 7,38% |
Kaufkraftbereinigt ist das neue Bruttogehalt um 4,00% höher, das Nettogehalt um 3,09% höher als das alte, bei einem Grenzsteuersatz von 36,5%. Der Engländer würde sagen: You do the math.
Aber mit dieser Tarifindexierung werden auch all diejenigen bedacht, deren Löhne und Einkommen nicht steigen, sondern gleich bleiben oder sogar sinken. So etwas ist nicht selten, etwa durch (in diesem Fall meist unfreiwillige) Berufswechsel, Reduktion der Arbeitszeit oder auch simpel durch Pensionierung. Selbständige wissen ohnehin ein Lied von schwankenden Einnahmen und daher oft auch recht mageren Jahren zu singen. Nun mag man einen solchen Teuerungsausgleich sozialpolitisch für richtig halten, fiskalisch kann das aber teuer werden. Denn die Ausgaben des Staates werden nicht dann mehr, wenn alle Erwerbstätigen ihre Einkommen um die Inflationsrate steigern können. Eher im Gegenteil: Können sie das nämlich nicht, so steigen wahrscheinlich u.a. die Sozialausgaben. Sehen wir uns dazu das letzte Beispiel an, bei dem das Monatsgehalt um 100 Euro gesunken ist.
Position | Betrag | Veränderung |
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Zwölf Monatsgehälter | € 27.600 | – 4,17% |
Sozialversicherung, AK etc. | € 4.987,32 | – 4,17% |
Berechnungsbasis Lohnsteuer | € 22.612,68 | – 4,17% |
abzgl. Sonderausgabenpauschale | € 62,50 | + 4,17% |
abzgl. Werbungkostenpauschale | € 137,50 | + 4,17% |
Bemessungsgrundlage | € 22.412,68 | – 4,24% |
Tarifstufe bis 11.458,33 € | € 00,00 | — |
Tarifstufe bis 26.041,67 € | € 3.998,34 | – 11,69% |
abzgl. Arbeitnehmerabsetzbetrag | € 56,25 | + 4,17% |
abzgl. Verkehrsabsetzbetrag | € 303,13 | + 4,17% |
Lohnsteuer | € 3.638,97 | – 13,00% |
Nettogehalt | € 18.973,71 | – 2,27% |
Natürlich wäre auch ohne Indexierung die Steuerlast stärker zurückgegangen als das Einkommen; das ist der gewünschte Effekt eines progressiven Steuersystems. Doch während im nicht-indexierten System das Nettoeinkommen um 2,67% zurückgeht (und damit ebenfalls um weniger als das Bruttoeinkommen), schluckt die Indexierung hier weitere 0,4%. Sie bekämpft eben nicht bloß die kalte Progression, sondern verbindet den Tarif allgemein mit der Preissteigerung. Bleiben die Einkommen zu laufenden Preisen konstant, so sinkt das Steueraufkommen bei indexierten Tarifstufen.
Wie häufig auch stagnierende oder sinkende Einkommensverläufe vorkommen, mag folgende Statistik näherbringen: Zwischen 2008 und 2013 stieg das Bruttojahreseinkommen der unselbständig Beschäftigten im Median um insgesamt 6%, der Verbraucherpreisindex um rund 10%. Im ersten Quartil sank das Bruttojahreseinkommen sogar. Bei den Dezilen mit höheren Einkommen — die von einer Indexierung am meisten profitieren würden — gibt es auch die größten Zuwächse. Nun kann man als Person im Laufe seines Lebens verschiedenen Dezilen angehören; ein gewisser Trend lässt sich aber doch ablesen.
Fazit
Die Indexierung der Tarifstufen kann zu einem Fiskalproblem werden, da viele Einkommensverläufe nicht dem idealtypischen langzeitbeschäftigten Vollzeit-Angestellten mit Inflationsabgeltung folgen. Außerdem werden auch Erhöhungen über der Inflationsrate begünstigt, da auch der überschießende Teil einen automatischen Inflationsausgleich unterliegt. Insgesamt ist angesichts einer angespannten Budgetsituation damit zu rechnen, dass eine solche Indexierung, die den Fiskalzweck der Einkommensteuer unterläuft, durch eine Ausweitung von Konsumsteuern finanziert werden würde, die ja erstens mit der Inflation und zweitens mit steigender Kaufkraft automatisch mehr erbringen.
P.S.: Alle Zahlen ohne Gewähr. Beim Eintipseln von so vielen Zahlen kann schon einmal irgendwo ein Fehler sein …
- Dieser Effekt kann durch eine Progression aber verschärft werden, was manchmal zur allgemeinen Verwirrung auch als „kalte Progression“ bezeichnet wird. ↩