Budget-Theater: Sinnlose Briefe, sinnlose Rechnungen

Groß war die Aufregung, dass Österreich von der EU-Kommission gerügt werden könnte, weil das sogenannte strukturelle Defizit des Landes zu hoch sein könnte. Ein kurzer Brief des Finanzministers genügte freilich zur Entschärfung der Situation. Vorbildlicherweise ist dieser Brief vom Finanzministerium auch online gestellt worden.

Darin werden einige Maßnahmen kursorisch beschrieben, mit denen Verwaltungskosten gesenkt werden sollen. Die Auswirkungen der niedrigen Inflation auf Pensions- und Gehaltsabschlüsse werden positiv herausgestellt. Alles in allem wird ein Kenner der innenpolitischen Debatte nichts Neues darin finden, weil Schelling einfach aktuelle Entwicklungen zusammenfasst. Offenbar sind diese öffentlich zugänglichen Informationen in Brüssel nicht bekannt?!

Dass solche Briefe überhaupt notwendig sind, ist Folge des „Europäischen Semesters“, des gemeinsamen Budgets- und Wirtschaftspolitik-Steuerungsprozesses der EU-Mitgliedstaaten. Dabei geben Staaten ihre Budgetplanung bekannt, und die Kommission überprüft, ob sie mit den definierten Zielen übereinstimmen. Klingt theoretisch gut, führt in der Praxis aber zu fast schon rituellen Briefwechseln fragwürdigen Inhalts.

Großzügig schätzen wird belohnt

Das Verfahren belohnt vom Aufbau her Staaten, die bei den Einnahmen großzügig und den Ausgaben knapp budgetieren und hinterher leider ihre Ziele nicht erreicht haben, während Staaten, welche ihre Einnahmen und Ausgaben eher konservativ schätzen, das Nachsehen haben. Und er heuchelt Planungsgenauigkeit, die es nicht gibt. Schon die Unterscheidung in zyklisches und strukturelles Defizit ist nicht so trennscharf, wie sie klingt.

Und abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung etc. kann das Defizit natürlich in der Endabrechnung unterschiedlich hoch ausfallen. Wichtiger ist da, ob man im Vollzug auf geänderte Gegebenheiten auch rasch reagiert hat und daher die Endabrechnung die gewünschte Tedenz zeigt.

Ein prozyklisches „strukturelles Defizit“

Dabei gibt es noch ein anderes Problem, nämlich die Berechnung des strukturellen Defizits selbst. Eine Revision der Defizitberechnung war ja auch der Grund für den Brief an Österreichs Finanzminister.

Das Problem ist gut in einem Essay des Brüsseler Think Tanks Bruegel dargestellt. Die Kommission berechnet für diese Maßzahl mit Hilfe einer Produktionsfunktion die mögliche Produktion, wozu eine Reihe von Annahmen notwendig ist. Die Abweichung der tatsächlichen Wirtschaftsleistung von der potentiellen gibt die zyklische Komponente wieder, der Rest ist dann strukturell.

Eine der Annahmen dazu ist die inflationskonstante Arbeitslosenrate, die sogenannte NAWRU: Sinkt die Arbeitslosenrate darunter, so würde das durch sich beschleunigende Lohnsteigerungen eine Inflationsspirale auslösen. Ist sie darüber, so liegen Ressourcen brach und Deflationsgefahren drohen. Wird sie erreicht, so gibt es weder einen Preisdruck nach oben noch nach unten, und das Wachstum der Löhne ist konstant.

Die Methodik der EU unterstellt eine NAWRU, die nah an der tatsächlichen Arbeitslosenrate liegt. So soll Spanien eine NAWRU von 23% haben, deren Höhe sich prozyklisch ändert.

Spanien sieht das freilich anders, und wahrscheinlich zu recht. Einige Länder haben daher für eine Änderung dieser Berechnung plädiert, welche die Effekte von Rezessionen und Hochkonjunktur besser abbildet. Da hohe Arbeitslosenraten automatisch zu niedrigeren Staatseinnahmen und höheren Staatsausgaben führen, ein nicht unerheblicher Punkt. Allerdings sind sie mit ihrem Vorschlag nur in homöopathischen Dosen durchgedrungen.

Stattdessen hält man an einer problematischen, durch ständige Revisionen immer undurchschaubareren Methodik fest, welche die ehrenwerten Ziele stabiler Staatsfinanzen mittels einer Farce umsetzen will.

US-Klippensprünge ins Schlammbad

Die letzten Tage konnten wir wieder atemlose Meldungen mitverfolgen, ob es Demokraten und Republikanern in den USA gelingen würde, das sogenannte „fiscal cliff“ zu vermeiden, das beide Parteien bei ihrem letzten großen Kompromiß erst geschaffen hatten. Nach alter Tradition haben sie in letzter Minute eine Einigung herbeigeführt – interessanterweise nicht dank Obama, der sich bisher als wenig verhandlungsfähig erwiesen hat, sondern mittels seines Vize Joe Biden und dessem alten Bekannten, dem republikanischen Fraktionsvorsitzenden im Senat Mitch O’Connell.

Im wesentlichen wurde ein Teil der vorprogrammierten Steuererhöhungen abgewendet, während die Ausgabenkürzungen wieder um zwei Monate aufgeschoben wurden, wenn dann auch der nächste Beschluß zur Anhebung der Verschuldungsgrenze fällig ist. Mehr Details hier im Wonkbook der Washington Post; auf scribd.com wurde mittlerweile der Gesetzesvorschlag eingestellt, immerhin ein 157-Seiten-Dokument. Warum man glaubt, in zwei Monaten zu schaffen, was man in den vergangenen Jahren nicht erreichen konnte, ist rätselhaft.

Beide Parteien haben damit im wesentlichen zwei Dinge bewiesen: Echte Einsparungen sind da wie dort nicht konsensfähig; jeder weiß aber, das sie unbedingt notwendig sind, und versucht daher, in der seit Monaten laufenden Schlammschlacht ums Budget dem jeweils anderen die Verantwortung für Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen umzuhängen.

Nicht anders ist z.B. zu erklären, daß Obama 2010 eine überparteiliche Arbeitsgruppe für Sparvorschläge eingesetzt hat, die sogenannte Bowles-Simpson-Kommission, doch deren Vorschläge in keiner Weise unterstützte oder auch nur thematisierte. Die Republikaner im Repräsentatenhaus wagten zwar einmal mit dem Ryan-Plan, Sparvorschläge auf den Tisch zu legen, aber selbst ihre Senatskollegen waren davon wenig begeistert.

Schlimmer als dieses Mikadospiel um Einsparungen ist aber die Verunsicherung, die damit in der Wirtschaft ausgelöst wird. Wenn wesentliche steuerpolitische Entscheidungen erst am letzten Tag getroffen oder Verlängerungen des Arbeitslosengelds quasi rückwirkend beschlossen werden, ist für den einzelnen Amerikaner, ob Unternehmer oder Arbeitnehmer, jede Planbarkeit verlorengegangen. Und Unsicherheit führt bekanntlich immer in wirtschaftliche Krisen, weil viele mit ihren Investitions- und Konsumentscheidungen zuwarten, bis wieder mehr Ruhe und Stabilität eingekehrt ist.

Summa summarum schaffen es also die US-Parteien, durch ihr andauernden Geplänkel den Sanierungsbedarf noch zu erhöhen, weil die US-Wirtschaft durch die fortdauernde Unsicherheit paralysiert wird. Da wäre ein beherzter Sprung über das Fiskalkliff wohl doch die bessere, weil  kalkulierbare Variante gewesen.

Stephan Schulmeister als Wirtschaftsalchimist

Es ist in der Ökonomen-Zunft nicht selten, daß aus sorgfältigen Wissenschaftern eitle Ideologen werden, wenn ihnen die Rolle als politischer Kommentator einfach zu gut gefällt. Da fällt mir als prominentes Beispiel z.B. Paul Krugman ein, der den Nobelpreis für seine Arbeiten durchaus verdient hat, aber jetzt vor allem als New-York-Times-Kolumnist glänzt, wobei er seine Reputation für z.T. haarsträubende ökonomische Behauptungen benutzt.

In Österreich ist alles etwas bescheidener. Stephan Schulmeister stand nie im Verdacht, vor der Verleihung eines Nobelpreises zu stehen, dafür hat er auch nicht ganz das publizistische Profil eines Paul Krugman. Trotzdem machen Artikel wie sein Kommentar im Standard vom 17. Dezember 2012 traurig, denn er müsste es besser wissen.

Dort schlägt er anläßlich des Salzburger Finanzskandals rund um LR David Brenner (SPÖ) vor, durch staatliche Fixierung von Zinsen und Wechselkursen der Spekulation den Boden zu entziehen, und träumt in einer „Rückblende eines gealterten Wirtschaftsforschers“ von der goldenen Nachkriegszeit, in der sich ein Unternehmer um keine Absicherung eines Wechselkursrisikos habe kümmern müssen. Schließlich muß auch noch China als Beispiel einer mustergültigen geplanten Marktwirtschaft herhalten.

Es gäbe jetzt viel zu bemerken – zu viel für einen Blogeintrag –, daher nur dieses:

Schulmeister schlägt kurz gefaßt folgendes vor: Vergemeinschaftete Schulden, die durch die EZB finanziert werden; Festlegen eines künstlichen Zinsniveaus; festlegen fixer Wechselkurse.

Fixe Wechselkurse

Fixe Wechselkurse sind freilich praktikabel, wenn die beteiligten Länder bereit sind, gewisse stabilitätspolitische Opfer zu bringen, so daß der fixe Wechselkurs auch annähernd realen Angebots- und Nachfragegegebenheiten entspricht. Sonst kommt es ziemlich rasch zur Bildung von Parallel-Wechselkursen, Handel über andere Währungen und weitere Umgehungen, mit denen das staatlich herbeigeführte Ungleichgewicht am Währungsmarkt privat wieder notdürftig reduziert wird.

So hat sich der Goldstandard der Gründerzeit durch niedrige Zölle, Freihandel, freie Migration zwischen den wesentlichen Beteiligten, niedrige Budgetdefizite, Preisstabilität und allgemein zurückhaltende Staatssektoren ausgezeichnet. Das hat zwar funktioniert, es ist aber fraglich, ob wir diesen Preis für fixe Wechselkurse neuerlich zahlen wollen.

Das Bretton-Woods-System hat in Zeiten hohen Aufholwachstums nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ebenfalls funktioniert, zerbrach aber schließlich an den US-Zahlungsbilanzdefiziten und der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung der Teilnehmerländer.

Das Europäische Währungssystem geriet mehrfach in Krisen, weil einige Teilnehmerländer nicht die nötige Wirtschaftspolitik – insbesondere niedrige Inflation und ricardianische (glaubwürdig niedrige) Staatsverschuldung – dafür betrieben haben. Im Euro sehen wir dasselbe.

Da Schulmeister genau die Wirtschaftspolitik in der Regel ablehnt, die zur Absicherung fixer Wechselkurse notwendig ist, fragt man sich, welches Modell er da genau im Kopf hat, mit dem man den Preis einer Ware fixieren kann, ohne auf Angebot und Nachfrage Rücksicht zu nehmen oder die üblichen negative Folgen bei Preisfixierung befürchten zu müssen.

Fixe Zinsen

Das geldpolitische Modell Schulmeisters ist noch naiver. Gerade die letzten Monate haben gezeigt, daß die Finanzierungsbedingungen von Unternehmen und Privatpersonen nur indirekt vom Zinsniveau der EZB oder im Falle Schulmeisters eines Europäischen Währungsfonds abhängen.

Denn Zinsen sind nun einmal ebenfalls ein Preis, nicht der des Geldes, sondern der des Kredits, in denen sich Zeitpräferenzen, Risikoannahmen, Arbitragemöglichkeiten und mehr ausdrücken. Wenn die festgelegten Zinsen des EWF angesichts bestehender Risken, Zukuftsperspektiven etc. zu niedrig angesetzt sind, so wird dieser Probleme haben, seine Anleihen zu platzieren. Im Notfall, das haben wir seit Beginn der Krise erlebt, stecken die Leute das Geld lieber unter den Kopfpolster, kaufen überteuerte Grundstücke oder verfolgen sonst irgendeine den Wert nicht zu sehr verzehrende Anlagestrategie, bevor sie ihr Geld in Papiere stecken, denen sie nicht vertrauen. Jetzt kann man freilich durch Maßnahmen den Kauf erzwingen – das wäre freilich nichts anderes als eine Art Steuer, die man auch einfacher einführen kann.

Schließlich scheint auch die Lucas-Kritik an Schulmeister vorübergegangen zu sein. Die Lucas-Kritik sagt, kurz gefaßt, daß sich die Menschen nicht auf Dauer von den Wirtschaftspolitikern überlisten lassen, sondern deren Winkelzüge in ihre eigenen Planungen miteinbeziehen. Die Zinslandschaft läßt sich durch Ausweitung und Kontraktion der Kreditmenge durch die Zentralbank beeinflussen, keine Frage, und die EZB kann durch Offenmarktkäufe die Zinsstrukturkurve beieinflussen, aber immer mit der Einschränkung, daß ihre Handlungen von den anderen Marktteilnehmern beobachtet werden, daraus Zukunftsprognosen abgeleitet werden und das erwartete Handeln der Notenbank eingepreist wird.

Gemeinschaftsschulden

Die Idee vergemeinschafteter Schulden ist in letzter Zeit oft diskutiert worden, doch Schulmeisters Vorschlag geht über die üblichen Eurobonds-Szenarien weit hinaus. Die volle Rückendeckung der EZB bedeutet nichts anderes als die Seignorage-Finanzierung der Euroländer: Die EZB weitet die Geldmenge aus, in dem sie Staatspapiere in beliebiger Höhe einkauft und enthebt damit die Staaten kurzfristig jeder Finanzierungssorgen. Ändert man das Mandat der EZB nicht, muß sie dafür freilich die Geldmenge andernorts verknappen, und damit die private Konsum- und Investitionstätigkeit abwürgen. Ändert man das Mandat, so kommt man über die politischen Anreize zur Staatsfinanzierung per Notenpresse und die entsprechende Reaktion der Bürger in eine Inflationsspirale hinein. Damit werden nach historischer Erfahrung große wirtschaftliche Turbulenzen ausgelöst.

Auch wenn es gerne behauptet wird, ähnelt die jetzige Staatsschuldenfinanzierung der EZB diesem Modell nicht, da sie an Auflagen gebunden und zeitlich begrenzt ist.

Wie ich schon ausgeführt habe, halte ich es für naiv, daß alle danach lechzen, europäische Gemeinschaftsanleihen aufzukaufen, deren massiver Wertverfall in Schulmeisters Modell bereits einprogrammiert ist. Da kauft man noch besser eine Ladung Kupfer und vergräbt sie in der Erde, oder, wenn es ganz hart kommt, wärmt sich im Winter mit den brennenden Eurogeldscheinen.

Vielleicht hat Schulmeister seine Ideen nur so verknappt, daß sie so weltfremd daherkommen, und in Wahrheit steckt da ein ausgeklügeltes Modell dahinter. Aber bislang bin ich sehr skeptisch.

Die inhärente Unordnung der Euro-Rettungspolitik

Im „Journal of Economic Perspectives“ absolviert Philip R. Lane, Professor am irischen Trinity College Dublin, eine Tour d’horizon durch die Eurokrise, von ihren Wurzeln und ihrer Bekämpfung. Sein Schluß (von mir übersetzt):

Fazit: Der Ursprung und die Ausbreitung der europäischen Staatsschuldenkrise kann dem mangelhaften ursprünglichen Design des Euro zugeschrieben werden. Insbesondere gab es nur ein unvollständiges Verständnis für die Zerbrechlichkeit einer Währungsunion unter Krisenbedingungen, vor allem bei Fehlen einer Bankenunion und anderen auf europäischer Ebene angesiedelten Puffermechanismen. Darüber hinaus war die innewohnende Unordnung, die mit den Vorschlägen und der Durchführung schrittweiser Antworten des länderübergreifenden Krisenmanagements mitten im Geschehen verbunden ist, ein wichtiger destabilisierender Faktor während der ganzen Krise.

Der wohlwollendste Blick auf die europäische Staatsschuldenkrise ist, daß sie eine Gelegenheit bietet, für eine stabile Währungsunion notwendige Reformen, die bei ihrem Fehlen nicht politisch machbar gewesen wären, umzusetzen. Eine bescheidenere Hoffnung ist, daß der sich entfaltende Reformprozess eine überlebensfähige Währungsunion erbringen wird, auch wenn sie bei wiederkehrende Krisen verwundbar bleiben wird. Das Alternativszenario, in dem die gemeinsame europäische Währung implodiert, ist aber nicht länger undenkbar, selbst wenn es die „Mutter aller Finanzkrisen“ auslösen würde. Der Einsatz ist hoch.

Lane diskutiert in der Folge Lösungsvorschläge wie eine „Bankenunion“, die ja nun mit der Europäischen Bankenunion schon begonnen hat, „Eurobonds“ und eine „vertiefte Fiskalunion“, also eine Übertragung von mehr Steuer- und Ausgaberessourcen an die EU.

Sie alle wollen im Prinzip zwei Probleme durch Vergemeinschaftung lösen: (1) Daß die „No-bailout“-Klausel völlig unglaubwürdig war und ist, sich also jedes halbwegs relevante Euroland (also Zypern und Malta ausgenommen) aufs Auffangen verlassen kann. (2) Daß in der EU kein Konzept für die Liquidierung größerer Bankinstitute existiert und der isländische Weg der direkten Riskenüberwälzung auf die Gläubiger für nicht gangbar erachtet wird.

Vor diesem Hintergrund ist wohl auch die Möglichkeit eines Euro-Zerfalls zu sehen. Wenn man sich auf keine tiefere Vergemeinschaftung einigen kann – was ja nichts anderes als die Übernahme des schlagend gewordenen Risikos nicht-ricardianisch verschuldeter Länder durch die Steuerzahler der übrigen Länder bedeutet —, aber auch den Bankrott eines Staates in der Euro-Gemeinschaft ausschließt, so könnte die wirtschaftliche und politische Überforderung der Geber- und Nehmerländer zu einem dramatischen Finale führen. Die bisherige „innewohnende Unordnung“ der Rettungspolitik, die je nach politischer Konstellation einige Bocksprünge vollführt hat, läßt einen hier nicht so zuversichtlich werden. Einer der Gründe für die Folgerezession, denn nichts ist größeres wirtschaftliches Gift als die Ungewißheit.

Sehr interessant dazu übrigens ein Artikel beim Pixelökonomen Johannes Eber, in dem er an Hand der Kritik des deutschen Parlamentariers Frank Schäffler mehrere Probleme der sogenannten Rettungspolitik anspricht.

Zypern, die Russen und Ressentiments

Die Debatte um Hilfe für das finanziell angeschlagene Zypern ist um eine Facette reicher, seit der „Spiegel“ berichtet hat, angeblich würde der Bundesnachrichtendienst monieren, daß in Zypern viel russisches Schwarzgeld angelegt sei. Eine Hilfe für Zypern sei daher eine Hilfe für russische Schwarzgeld-Anleger. Die Inselrepublik weist diesen Bericht empört zurück, und hat wohl recht, daß es hier vor allem um einen Angriff auf Zypern gehe.

Die Argumentation des Spiegels bedient tiefsitzende Ressentiments: Den „Russen“, sowieso alles Verbrecher — so der Unterton – geben wir nichts. In die gleiche Kerbe schlagen natürlich SPD und Grüne, denen Rassismus ja nicht fremd ist, trifft es nur die „richtigen“.

Es ist nämlich schon seltsam: Bislang war die Identität der Anleger in einem Land völlig irrelevant für die Frage, ob man ein EU-Land bankrott gehen läßt oder nicht. Und Zypern ist ja nicht in Schwierigkeiten, weil Russen so viel Geld in Zypern anlegen, sondern wegen seiner Verflechtungen mit Griechenland. Zypern ist sozusagen der Kollateralschaden der gescheiterten Griechenlandpolitik der EU-Länder. An sich lag der Schuldenstand Zypern 2011 bei 71,6% des BIP, niedriger als z.B. für Deutschland. Das Defizit betrug 2011 in Gefolge der Griechenlandkrise (und damit einer schrumpfenden Wirtschaftsleistung) allerdings 6% und wird 2012 möglichweise 4,5% des BIP erreichen.

Die russischen Anleger haben ihr Geld in der Regel ohnehin wohl nicht in jenen Banken angelegt, die wegen Griechenland in Turbulenzen sind, sondern in zypriotischen Töchtern ausländischer Banken, die wegen der anlegerfreundlichen Steuern von dort aus agieren. Die Aussage, mit einem Bailout Zypern würden russische Anleger gerettet, ist also höchstwahrscheinlich einfach falsch.

Ob in Zypern russisches Schwarzgeld liegt oder nicht, ist daher vor allem eine bilaterale Frage zwischen Zypern und Rußland. Aber Rußland hat Zypern bereits 2011 einen Kredit über 2,5 Milliarden Euro zukommen lassen; es zögert nun tatsächlich bei der Anfrage Zyperns um einen Fünf-Milliarden-Kredit, daß ist aber angesichts der zypriotischen Zukunftsaussichten verständlich. Allgemein sieht Rußland Zypern eher als Verbündeten, wie auch ein Besuch des damaligen russischen Staatspräsidenten Medwedew im Jahr 2010 unterstrich.

Der gestreute BND-Bericht verfolgt wahrscheinlich vor allem das Ziel, Zypern unter Druck zu setzen. Denn der zypriotischen Präsident, Dimitris Christofias von der kommunistischen AKEL, hatte die bisherigen Vorschläge der EU-Troika abgelehnt und als Anschlag auf das werktätige Volk gesehen. Die Gegenvorschläge Zypern stoßen wiederum auf taube Ohren. In der EU-Troika herrscht die Meinung vor, daß das kleine Zypern sich selbst überschätzt, wenn es die Bedingungen einer Finanzhilfe beeinflussen will. Meldungen wie der Spiegel-Artikel sollen wahrscheinlich helfen, Zypern zu signalisieren, daß die Bedingungen nur schlechter werden können, je länger das Land zögert.

Das konjunkturbereinigte Defizit: Eine Chimäre?

Im Recht der Europäischen Union spielt die „cyclically-adjusted budget balance“, der konjunkturbereinigte Budgetsaldo, eine große Rolle und wird zur Zielgröße fiskalpolitischen Handelns. Man spricht dann davon, wie hoch das „strukturelle“ (konjunkturbereinigte) Defizit sei und wie hoch das konjunkurbedingte, zyklische Defizit. Von Überschüssen wage ich gar nicht zu schreiben.

Die Kenngröße wird folgendermaßen berechnet: In einem Modell mit Cobb-Douglas-Produktionsfunktion wird die potentielle Wirtschaftsleistung bei Stand der Technik geschätzt. Darüber wird dann die trendmäßige Entwicklung der Arbeitslosigkeit an Hand der Lohninflation gelegt und mit einem zyklischen Prozeß ergänzt, sowie eine Trendentwicklung der Produktivität und eine Trendbeteiligung der erwerbsfähigen Bevölkerung am Arbeitsmarkt geschätzt.

Der konjunkturbereinigte Budgetsaldo wird dann in zwei Schritten geschätzt: Zuerst wird die Differenz zwischen der errechneten potentiellen und der statistisch ermittelten Wirtschaftsleistung berechnet. Dann wird aus dieser Differenz, dem sogenannten Output-Gap, mit Hilfe der Grenzrate der Änderung von Staatseinnahmen und -ausgaben in bezug auf die Wirtschaftsleistung eine konjunkturbedingte Komponente des Budgetsaldos errechnet und dann vom tatsächlichen Budgetsaldo abgezogen. Der Saldo wird also in den Teil aufgespalten, der sich aus automatischen Stabilisatoren ergbit, der Reaktion der Einnahmen und Ausgaben auf die Wirtschaftsentwicklung, und den Teil, der aus diskretionären Maßnahmen der Politik heraus entstanden ist. Klingt technisch durchaus interessant, wenn auch wegen der vielen nötigen Annahmen durchaus mit großer Unsicherheit behaftet.

Aber ist das überhaupt eine sinnvolle Meßgröße? Was sagt sie eigentlich aus? Der kanadische Ökonom Nick Rowe sagt: Gar nichts. Denn die Aufteilung hänge vom Design der Bestimmungen ab, die Ausgaben und Einnahmen regeln, nicht notwendigerweise von ihren praktischen Auswirkungen. Ein Beispiel Rowes: Zwei Staaten verfolgen eine unterschiedliche Steuerpolitik. Der eine setzt auf relativ hohe, konstante Grenzsteuersätze, der andere auf relativ niedrige Grenzsteuersätze in Rezessionen und höhere Sätze während einer Hochkonjunktur mittels diskretionärer Maßnahmen. Das erste Land wird im Modell mit einer hohen zyklischen und einer geringeren strukturellen Komponente gesehen; das zweite Land wird dagegen mit einer hohen strukturellen Komponente gesehen, da die Steuerkürzungen und -erhöhungen als politische Maßnahmen gewertet werden. Doch, so Rowe, das Ergebnis wäre das gleiche: Am Ende der Rezession wird auch das Defizit geringer.

Die Unterscheidung zwischen konjunkturbedingt und strukturell wäre dann also vor allem eine politische, keine makroökonmische. Seine Argumentation hat er jetzt in einem anderen Beitrag noch einmal gut zusammengefaßt.

(über Marginal Revolution)

Austerität? Welche Austerität?

Eine gängige Analyse der Wahlen in Frankreich, Griechenland und Italien war, daß die Wähler genug von den harten Ausgabenkürzungen hätten, die auch massiv zur wirtschaftlichen Malaise der Euroländer beitrügen. Aber: Hat es überhaupt harte Ausgabenkürzungen in der Eurozone gegeben? Die Antwort darauf ist gar nicht so einfach.

Veronique de Rugy hat die Staatsausgaben mehrerer Euroländer zu laufenden Preisen verglichen, die gewöhnlich mit Einsparungen in Verbindung gebracht werden: Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien und Spanien. Dabei zeigt sie, daß im wesentlichen nur Griechenland seine Ausgaben deutlich reduziert hat, bei den meisten Euroländern davon aber keine Rede sein kann. Wo keine Ausgabenkürzung, da auch keine kontraktive Wirkung einer solchen.

Diese Interpretation ruft natürlich Widerspruch hervor. So argumentiert Ryan Avent im „Economist“ mit der Veränderung der Budgetsalden und der Staatsausgaben in Prozent der Wirtschaftsleistung, bei denen sich z.T. deutliche Veränderungen zeigen. Warum das für eine kurzfristige Betrachtung möglicherweise irreführend ist, illustriert wiederum Tyler Cowen. Denn die Staatsausgaben in % des BIP hängen ja auch von der Entwicklung des BIP ab; verändert sich das BIP bei konstanten Staatsausgaben, so suggeriert die Angabe der Höhe in % des BIP eine Änderung, die es gar nicht gegeben hat. Außerdem hängt die Wirkung der Staatsausgaben kurzfristig von der Entwicklung zu laufenden Preisen ab, nicht von Umrechnungen zu verketteten Preisen etc. Wie Cowen schreibt:

[…W]hen judging whether fiscal policy is contractionary or expansionary in macroeconomic terms, we do not automatically adjust for percentage of gdp and inflation. Start instead by looking at nominal government spending, and then perhaps take a glance at nominal gdp or related measures. The theory, after all, is about nominal values, most of all in the short run.

Gibt es also gar keine „Sparpolitik“? In Griechenland, Irland oder Portugal gibt es sie ohne Zweifel; diese Länder sind aber für die Performance der europäischen Wirtschaft nur von untergeordneter Bedeutung. In den anderen Ländern nimmt Defizitreduktion aber vor allem die Form von Steuererhöhungen an. Die wirken schneller als strukturelle Maßnahmen und sind wegen der Logik gemeinsamen Handelns bis zu einem gewissen Grad auch leichter durchzusetzen. Doch sind sie empirisch belegbar nicht so nachhaltig wie Einsparungen und – außer für Jünger des Haavelmo-Theorems – mindestens ebenso kontraktiv. Besonders die in der EU beliebten Mehrwertsteuererhöhungen wirken konjunkturdämpfend und verstärken die wirtschaftliche Wirkung tatsächlicher Kürzungen.

In der Debatte spielt interessanterweise die Definition des Wortes „Austerität“ eine große Rolle, und ob schon eine gebremste Dynamik der Ausgaben als Maßnahme gilt, die das Wirtschaftswachstum belastet. Die Rolle der Erwartungen wird dagegen kaum thematisiert, obwohl das für Verfechter der These, daß schon zu viel der Austerität herrscht, eine elegante Verteidigungslinie wäre.