Umberto Ecos „Der Name der Rose“ ist sicher einer der besseren Romane, die im Mittelalter angesiedelt sind. Eco spielt natürlich mit Klischees und arbeitet mit Anachronismen, die umso deutlicher werden, da er sich bemüht, einen authentisch klingenden Tonfall zu treffen. Doch wenn er augenzwinkernd die Hauptfigur Wittgenstein zitieren lässt, oder als Parellele zu Sherlock Holmes’ Watson den Gehilfen des ermittelnden Mönches Adson nennt, dann macht Eco klar, dass er mit Versatzstücken, Erwartungen und der Bildung des Lesers ein Spiel treibt. Das Mittelalters des Romans ist natürlich nicht das Mittelalter des 14. Jahrhunderts, sondern eine Projektion. Stephanie-Christina Kaiser hat das in einem Aufsatz an einigen Beispielen aufbereitet. Ein Roman will zudem eine Geschichte erzählen, der sich Details unterzuordnen haben. Beispielsweise hat keine Abtei des Mittelalters auch nur eine annähernd so gewaltige Bibliothek errichtet, vom Labyrinth ganz zu schweigen, doch für das Konzept des Romans ist das eben erforderlich.
Das vorausgeschickt, habe ich doch viele Jahre gebraucht, um zu bemerken, dass die Haupthandlung des Buches drei Schwächen hat, die gerade innerhalb der geschilderten Welt problematisch sind.
- Es ist extrem unwahrscheinlich, dass sich die einzige Ausgabe einer Aristoteles-Schrift ausgerechnet in einer italienischen Abtei befindet.
- Selbstmord ist im Mittelalter keine Option. Angeordneter Selbstmord erst recht nicht. Es wird kein Grund angegeben, warum dies im projizierten Mittelalter des Romans anders sein soll.
- Der durchschnittliche mittelalterliche Intellektuelle hat zum Lachen und zum Humor eine ambivalente Haltung, doch gegen die Ansichten des Bibliothekars hätte es etliche zeitgenössische Argumente gegeben.
Aristoteles in Italien?
Aristoteles’ Werke waren im lateinischen Westen des frühen Mittelalters praktisch unbekannt. In den Wirren der Völkerwanderungszeit hatten gerade einmal die Übersetzungen und Kommentare des Boethius überlebt. Diese wurden mit Wiederaufleben des Schreibens und Lesens ab der Karolingik auch eifrig kopiert, rezipiert und auch übersetzt, z.B. um 1000 von Notker Labeo ins Deutsche. Griechische Originale waren unbekannt.
Eine breite Aristoteles-Rezeption begann erst über Spanien, wo arabische Aristoteles-Übersetzungen weiter ins Lateinische übertragen wurden. Bald bemühte man sich, bessere Übersetzungen durch direkten Zugriff auf griechische Quellen zu schaffen. Hier ist besonders Papst Urban IV. hervorzuheben, der solche Übersetzungen gefördert haben soll. Und Wilhelm von Moerbeke ist zu nennen, der auf Bitte des Thomas von Aquin viele Texte des Aristoteles vom Griechischen ins Lateinische übertrug.
Die „Lateinische Reiche“ in Griechenland, die nach der Eroberung Konstantinopels 1204 entstanden sind, mögen den Zugriff auf griechische Quellen erleichtert haben. Das ist aber pure Spekulation meinerseits.
Der mittelalterliche „Hype“ um Aristoteles hatte Ende des 12. Jahrhundertes begonnen und war im 13. Jahrhundert im vollen Gange. Dabei taten sich die Franziskaner als Gegner des Aristoteles, die Dominikaner als seiner Verteidiger hervor. Hätte eine Abtei in einer Zeit, in der die Verbreitung der Schriften des Aristoteles sogar vom Papst gefördert wurde, den unwahrscheinlichen Fall zu vermelden gehabt, dass sie eine Aristoteles-Schrift als einzige (!) besäße, so hätte das ungeheures Prestige bedeutet.
Nebenbei musste der mittelalterliche Bibliothekar das Herz haben, unliebsame Bücher zu recyclen, weil Schreibwaren exorbitant teuer waren. Wer also ein Buch nicht brauchen konnte, der schabte es einfach ab und verwendete die freien Pergamente für ein neues Buch.
Selbstmord ist keine Option
Gerade einem Mönch Selbstmord als Ausweg suchen zu lassen, widerspricht den Überzeugungen jener Zeit. Selbstmord als Ausweg anzuordnen, wie es dem Bibliothekar geschieht, erst recht. In der Passion kann sich selbst der Schächer noch retten, weil er sich vor dem Tode zu Christus bekennt; der Selbstmörder Judas Iskariot aber begibt sich jeder Möglichkeit der Reue und Umkehr und scheidet mit einer Untat aus der Welt. Freilich gab es im Mittelalter Selbstmorde — aber sie haben in der Umgebung blankes Entsetzen hervorgerufen.
Bernard Gui lacht
William von Baskerville, die Hauptfigur des „Namens der Rose“ mit dem ironischen Sherlock-Holmes-haften Namen, hätte gegen den blinden Bibliothekar Jorge von Burgos mächtigere Argumente zur Hand gehabt, als er im Buch verwendet.
Verhöhnen, Spott und derbe Scherze, die im Mittelalter recht verbreitet waren, entsprechen nicht gerade dem christlichen Ideal. Und schallendes Gelächter ist mit dem Ideal eines ausgelichenen, ruhigen, in Gott versunkenen Menschen wohl nicht vereinbar. Zudem ist Lachen oft ein Auslachen – keine christliche Tugend.
Und doch hat etwa Bernard Gui festgestellt, dass jeder rechtschaffene Mensch zumindest einmal am Tag gescherzt haben sollte. Ja, der Bernard Gui, dessen Name bei Umberto Eco für den bösartigen Rivalen des William von Baskerville herhalten muss, der mit untauglichen Mitteln ebenfalls versucht, die Verbrechen zu klären und dabei drei Menschen den Tod bringt. Der echte Bernard Gui war ein sehr geschätzter, sehr gebildeter Mensch, der auch ein reiches historisches und hagiographisches Oeuvre hinterlassen hat. Und eben diese Weisheit.
Auch Thomas von Aquin — über den Bernard Gui eine Biographie verfasst hat — wusste vom grundsätzlichen Wert von Scherz und Spiel, wenn es in rechtem Maß betrieben würde. In der Summa Theologiae bemüht er eine Geschichte des hl. Johannes des Evangelisten, der mit seinen Schülern gespielt habe. Als ihn einige Leute deswegen rügten, fragte er zu einem der Leute, der einen Bogen trug, ob er ein paar Pfeile schießen könnte. Das tat der. Darauf fragte Johannes, ob er das ununterbrochen weiter tun könne. Das verneinte der Mann, weil dann der Bogen bräche. So sei es auch mit dem Geist, der hin und wieder Entspannung brauche, soll darauf Johannes erläutert haben.
Ja, für kontemplative Mönche sind übermäßige Gefühlsregungen zu meiden. Wer nichts Unnötiges schwätzen soll, wie es die Benediktsregel fordert, soll wohl auch keine Witze erzählen. (Noch dazu, wo der Witz jener Zeit eher selten die feine Klinge war.) Geschwätz, das zum Lachen reizt, soll gemieden werden. Doch schreibt Benedikt in den Ordensregel über die Stufen der Demut, dass — in einer der höchsten Stufen! — der Mönch nicht leicht und rasch ins Lachen verfallen soll. Auch soll er ruhig und demütig, ohne Geschrei und ohne Lachen reden. Aber „nicht leicht und rasch“ heißt eindeutig nicht: „nie“.
Wie der Abt von Engelberg, Christian Mayer OSB, erklärt:
„Ordensgründer Benedikt verbietet das Lachen nicht. Was er nicht will, ist oberflächliches Lachen. Ein Lachen, das aus dummen Witzen, herablassendem Gespräch über andere oder aus Langeweile entspringt. Das wohlwollende Lächeln, das gütige Schmunzeln oder auch das herzhafte Lachen gehören zum Klosteralltag dazu. Benedikt schreibt im vierten Kapitel über die ‚Werkzeuge der geistlichen Kunst‘: ‚Seinen Mund vor bösem und verkehrtem Reden hüten. Das viele Reden nicht lieben. Leere oder zum Gelächter reizende Worte meiden. Häufiges oder ungezügeltes Gelächter nicht lieben.‘ Sie sehen, er vermiest uns also nicht das Lachen an sich.“
Freilich: Im frühen Mittelalter war die Identifizierung von Lachen mit Spott, Hohn und Auslachen sehr stark. Viele Texte schärften den Mönchen daher ein, auf Lachen zu verzichten, wobei die Textwendungen jeweils deutlich machen, das oft die dahintersteckende Selbstüberhebung und Maßlosigkeit als Problem gesehen wird.
Die Unterscheidung in gutes, fröhliches und schlechtes, abwertendes Lachen hatte aber die Scholastik gerade im 13. Jahrhundert wiederentdeckt und wäre daher 1327 den gebildeten Kontrahenten mehr als geläufig gewesen. Dabei konnten die Scholastiker auch auf die Bibel zurückgreifen, in der sich beide Formen des Lachens finden.
Schließlich geht das sogenannte Osterlachen mindestens bis ins 14. Jahrhunder zurück: Der Brauch, dass der Priester zu Ostern in der Predigt eine erheiternde Geschichte erzählt, um die Freude über Ostern noch einmal sinnfällig zum Ausdruck zu bringen. Dabei wurde auch öfter der Leibhaftige verspottet, wie es der blinde Bibliothekar im „Namen der Rose“ fürchtet. Offenbar glaubte schon im 14. Jahrhundert niemand, dass Lachen über den Versucher zur Gottlosigkeit führen würde. Der Ernst der Aufklärung hat diesen Brauch allerdings wieder aus den Kirchen verbannt, in den protestantischen Gebieten bereits die Reformation, die mit Scherzen in der Kirche nichts anfangen konnte.
Gefällt mir Wird geladen …