Jesaja: Kein Übersetzungsfehler

Jesaja begleitet uns durch den Advent, so auch am vierten Adventsonntag. Diesmal hören wir die Weissagung, der Matthäus in seinem Evangelium so große Bedeutung beimißt:

Und der Herr sprach weiter zu Ahas: „Erbitte dir ein Zeichen vom Herrn, deinem Gott, in der Tiefe unten oder oben in der Höhe!“ Ahas erwiderte: „Ich will nicht darum bitten und den Herrn nicht versuchen.“ Da sagte Jesaja: „So hört, ihr vom Haus Davids! Ist es euch nicht genug, der Menschen Geduld zu erschöpfen, daß ihr auch noch die Geduld meines Gottes erschöpft? Darum wird der Allmächtige selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären und ihn ‚Immanuël‘ nennen.“
— Jesaja 7,10-14 in der Übersetzung von Henne/Gräff

Jesajas Aufregung über Ahas’ scheinbar fromme Verweigerung eines Zeichens ist verständlich – eine Bestätigung des Unglaubens, den Jesaja ohnehin vermutet hatte. Ahas will ja nicht deswegen kein Zeichen, weil er so demütig ist, sondern, weil er sich vom Herrn entfernt hat. Er will mit Jesajas Vorschlägen und Vorwürfen nichts zu tun haben. Darum also wird ihm das Zeichen regelrecht aufgezwungen: Die Jungfrau wird ein Kind gebären, Immanuel genannt, „Gott mit uns“.

In neuerer Zeit wird gerne erzählt, Matthäus sei einem „Übersetzungsfehler“ der griechischen Septuaginta aufgesessen, die Vers 14 so übersetzt:

διὰ τοῦτο δώσει κύριος αὐτὸς ὑμῖν σημεῖον· ἰδοὺ ἡ παρθένος ἐν γαστρὶ ἕξει καὶ τέξεται υἱόν, καὶ καλέσεις τὸ ὄνομα αὐτοῦ Εμμανουηλ·

Die Behauptung, die Übersetzung des hebräischen Wortes ‘almah als „Jungfrau“ sei sicherlich falsch, ist freilich selbst falsch, wie ein Blick in die biblische Verwendung des Wortes zeigt, vom Pentateuch über das Hohelied bis zu den Psalmen. Es ergibt auch als Zeichen keinen Sinn: Eine ‘almah war im Bibel-Hebräischen jedenfalls eine junge Frau, die bereits die Geschlechtsreife erlangt hat, aber noch kinderlos ist. Wenn es sich bloß um eine kinderlose junge Frau handeln würde, ist der Text kein Zeichen: Jede Erstgebärende war zuerst kinderlos. Der Versuch, das Zeichen darin zu sehen, dass es eigentlich noch ein präadoleszentes Mädchen ist, das schwanger wird, scheitert sprachlich schon daran, dass der Begriff der  ‘almah nicht für diese Alterskategorie verwendet wird.

Im Kommentar des jüdischen Gelehrten Rabbi Schlomo Jizchaki, genannt Raschi, wird die Deutung offengelassen, aber nahegelegt, die Frau des Propheten selbst sei die erwähnte ‘almah. Damit wird eine Brücke zum nächsten Kapitel geschlagen, in dem aber ein Kind mit ganz anderem Namen geboren wird. Außerdem bringt Jesaja seinen Sohn Schear-Jaschub zum im Kapitel 7 berichteten Treffen mit König Ahas mit – die Frau des Propheten war bereits Mutter, der Begriff für sie also unpassend.

Wie man es dreht und wendet: Die „Jungfrau“ ist kein Übersetzungsfehler; vielmehr gibt das Wort genau die Bedeutung wieder, die ‘almah hier beigelegt wurde.

O-Antiphone, da capo

Beginnend mit 17. Dezember rahmen die uralten O-Antiphonen in den adventlichen Vespern des Stundengebets das Magnificat ein; Texte, in denen alttestamentarische Vorausweisungen auf die Ankunft Jesu Christi das Adventgeschehen kommentieren und gegenwärtig machen. Letztes Jahr habe ich zu allen sieben Antiphonen eine kurze Übersetzung mit Bibelverweisen gebloggt:

Des Libanon Herrlichkeit wird ihr gegeben

Der dritte Adventsonntag steht unter einem besonderen Motto: „Gaudete in Domino semper: iterum dico gaudete. […] Dominus prope est.“ Paramente in rosa, heutzutage auch eine rosafarbene Kerze am Adventkranz verkünden die Freude, die von Weihnachten her schon in die Zeit des Wartens hineinleuchtet. „Freut euch allezeit im Herrn! Noch einmal sage ich: Freut euch! […] Der Herr ist nahe.“

Diese vorleuchtende Freude kommt im Jesaja-Text dieses Sonntags besonders zum Ausdruck:

Es jauchze die Wüste und die Ödnis! Es jauchze die Steppe! Sie blühe wie eine Lilie. Sie blühe in voller Blüte, ja, frohlocken soll sie jauchzend und jubelnd! Des Libanon Herrlichkeit wird ihr gegeben, die Pracht des Karmels und der Ebene Scharon. Schauen werden sie die Herrlichkeit des Herrn, die Pracht unseres Gottes. Darum stärkt die schlaffen Hände und festigt die wankenden Knie! Sagt den Verzagten: „Seid stark! Fürchtet euch nicht! Seht da, euer Gott! Die Rache kommt, Gottes Vergeltung. Er selbst wird kommen, euch zu erlösen.“ Dann werden sich öffnen die Augen der Blinden, sich auftun die Ohren der Tauben. Wie ein Hirsch wird dann springen der Lahme, die Zunge des Stummen wird jauchzen. (Denn in der Wüste brechen Wasser hervor und in der Steppe Bäche. Zum Teich wird der durstige Boden, zu Wasserquellen das lechzende Land. Wo Schakale hausten in ihrem Lager, wird Gras neben Rohr und Schilf ersprossen. Ein Straßendamm wird dort entstehen und ein Weg; „Heilige Straße“ wird man ihn nennen. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur ihnen wird er gehören. Selbst Unkundige werden auf ihm nicht irr gehen. Keine Löwen wird es dort geben, kein reißendes Tier wird ihn betreten. Nichts dergleichen wird sich dort finden. Nur die Erlösten dürfen dort wandeln.) Die vom Herrn Losgekauften werden heimkehren auf ihm und mit Jauchzen nach Zion kommen. Ihr Haupt wird ewige Freude umstrahlen. Frohlocken und Freude geleiten sie. Kummer und Seufzen entfliehen.
— zitiert nach nach der Übersetzung von Eugen Henne OFMCap und Osmund Gräff OFMCap in der Volksbibel 2000.
Der eingeklammerte Text ist nicht Teil der Lesung.

Jesaja beschreibt eine Vision göttlicher Fülle und Gerechtigkeit in einer düsteren Zeit, in der die Juden unter den Fehlentscheidungen ihrer eigenen Politiker und den Spielen der Supermächte ihrer Zeit schwer zu leiden hatten. Jesaja ruft seinen Landsleuten zu: Gott wird euch erlösen. Es ist keine Frage des Ob, nur des Wann.

Viele hatten sicher schon das Gefühl, dass mit der Rückkehr der Juden aus dem Gelobten Land die Verheißung Wahrheit geworden war. Und sicher hat diese Interpretation etwas für sich. Doch im Kontext ist diese Vision Jesajas eine Endzeitvision, ähnlich der Offenbarung des Johannes. Eine frohe Endzeitvision, bei der man zu recht denkt: Freut Euch! Und das Warten etwas leichter fällt.

Advent: Kinder des Friedens

Nun werden wir wieder in das Geschehen des Advent hineingenommen, das sehnsüchtige Warten der Menschen auf einen Retter. Eine durchaus aktuelle Sehnsucht, wie die diversen vorgeblichen politischen Heilsbringer der Gegenwart beweisen, die von Barack Obama über Hugo Chávez bis zu Thaksin Shinawatra reichen. Schon der jüdische Prophet Jesaja stellt aber klar, dass das wirkliche Heil für die Menschen nicht durch Menschen selbst erreicht werden kann. So heißt es in der 1. Lesung zum 1. Adventsonntag dieses Lesejahrs:

Das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, in einer Vision über Juda und Jerusalem gehört hat. Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg. Sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort. Er spricht Recht im Streit der Völker, er weist viele Nationen zurecht. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg. Ihr vom Haus Jakob, kommt, wir wollen unsere Wege gehen im Licht des Herrn.

Diese Vision des Friedens, der Gerechtigkeit und Versöhnung kann aus menschlicher Kraft allein nicht Wirklichkeit werden. Dazu braucht es das Wirken Gottes. Frühchristliche Autoren haben übrigens dieses Jesajazitat durchaus auch auf ihre Gegenwart bezogen und nicht bloß als Endzeitprophetie verstanden. So meint der Kirchenlehrer Justin der Märtyrer in seiner Ersten Apologie:

Und daß das eingetroffen ist, davon könnt ihr euch überzeugen; denn von Jerusalem gingen Männer aus in die Welt, zwölf an der Zahl, ganz ungebildet und der Rede nicht mächtig; aber durch die Kraft Gottes haben sie dem ganzen Menschengeschlechte gezeigt, daß sie von Christus gesandt waren, allen das Wort Gottes zu predigen. Und wir, die wir einst einander mordeten, enthalten uns jetzt nicht nur jeder Feindseligkeit gegen unsere Gegner, sondern wir gehen, um nicht zu lügen und die Untersuchungsrichter nicht zu täuschen, auch freudig für das Bekenntnis Christi in den Tod. Wir könnten ja in einem solchen Falle nach dem Spruche verfahren: „Die Zunge schwur, doch unvereidigt ist das Herz“; allein es wäre zum Lachen; denn wenn schon die von euch verpflichteten und in Dienst genommenen Soldaten das euch geleistete Gelöbnis höher achten als ihr Leben, ihre Eltern, ihre Heimat und alle ihre Angehörigen, obschon ihr ihnen nichts Unvergängliches bieten könnt, um wie viel mehr müssen wir, die nach Unvergänglichem trachten, alles auf uns nehmen, um das Ersehnte von dem zu erhalten, der die Macht hat, es zu geben?

Jesajas Prophetie ist für ihn also auch konkreter Auftrag. Auch der Kirchenlehrer Athanasius sieht darin einen Auftrag der Christen und sieht eine Ausbreitung des Friedens als Wirken christlichen Glaubens. Denn sie und andere waren überzeugt, dass mit der Ankunft Christi die Weissagung begonnen hat, wahr zu werden. Zum Abschluss sei dazu aus der Schrift „Gegen Celsus“ des Origenes zitiert, die ausführlich die Gegenwartsbedeutung der Jesaja-Stelle hervorstreicht:

„Wir kommen“ also „in den letzten Tagen“, nachdem unser Jesus sichtbar unter uns erschienen ist, „zu dem hellstrahlenden Berge des Herrn“, zum Worte, das aber jedes Wort erhaben ist, und zum „Hause Gottes“, „welches da ist die Gemeinde des lebendigen Gottes, Säule und Pfeiler der Wahrheit“. Und wir sehen, auf welche Weise dieses Haus „auf den Spitzen der Berge“ erbaut wird, nämlich auf allen den prophetischen Worten, die seine Grundlage sind. Erhöht wird aber dieses „Haus über den Hügeln“, d.h. über denjenigen, die bei den Menschen etwas besonderes in Weisheit und Wahrheit zu verkündigen scheinen. Und wir, „alle Völker“, kommen zu ihm, und wir, „die vielen Völker“, brechen auf und ermahnen einander, die „in den letzten Tagen“ durch Jesus Christus herrlich offenbarte Gottesverehrung anzunehmen, und rufen uns gegenseitig zu: „Kommet, lasset uns hinaufsteigen zu dem Berge des Herrn und zu dem Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seinen Weg, und dass wir wandeln auf ihm“. Denn von denen in „Sion“ ist „das Gesetz“ ausgegangen und hat als geistiges Gesetz bei uns seine Stätte erhalten. Aber auch „das Wort des Herrn“ ist von jenem „Jerusalem“ ausgegangen, damit es sich nach allen Seiten hin verbreite und „unter den Völkern“ eine Entscheidung treffe, indem es diejenigen auswählt, die offenbar für Belehrung empfänglich sind, das ungehorsame „Volk“ aber, das „zahlreich“ ist, straft.

Auf „die Frage“ aber, „woher wir kommen, oder wen wir als Stifter haben“ geben wir zur Antwort: Wir sind gekommen nach den Weisungen Jesu, um die geistigen „Schwerter“, mit denen wir unsere Meinungen verfochten und unsere Gegner angriffen, zusammenzuschlagen „zu Pflugscharen“, und „die Speere“, deren wir uns früher im Kampfe bedienten, umzuwandeln zu „Sicheln“. Denn wir ergreifen nicht mehr „das Schwert gegen ein Volk“, und wir lernen nicht mehr „die Kriegskunst“, da wir Kinder des Friedens geworden sind durch Jesus, der unser „Führer“ ist. Denn anstatt „der väterlichen Gesetze“, bei denen wir „fremd den Bündnissen waren“, haben wir ein „Gesetz“ empfangen, wofür wir dem, der uns von dem Irrtum befreit hat, Dank sagen, indem wir sprechen: „Wie trügerisch sind die Götzenbilder, die unsere Väter erwarben; und keines ist unter ihnen, das regnen läßt“. Unser „Chorführer und Lehrer“ ist also von den Juden ausgegangen, leitet aber mit dem Worte seiner Lehre den ganzen Erdkreis.

O Immanuel!

Mit der letzten der sieben „O-Antiphonen“ steht die Ankunft Jesu unmittelbar bevor. Nun wird er mit Immanuel angesprochen, „Gott mit uns“, nach dem Wort aus Jesaja, das im Evangelium des Matthäus auf Christus bezogen wird, siehe Mt 1,23. Aus der Sehnsucht der Völker vom Vortag wird nun die Erwartung der Völker; der Königstitel wird noch einmal aufgenommen und nun mit dem Heiland, dem Retter verbunden. Der Text läßt keinen Zweifel daran, daß Großes unmittelbar bevorsteht.

Antiphon vom 22. Dezember

Latein

O Emmanuel,
Rex et legifer noster,
exspectatio gentium, et Salvator earum:
veni ad salvandum nos Domine Deus noster.

Übersetzung

O Emmanuel, (Jes 7,14)
unser König und Gesetzgeber, (Jes 33,22)
Erwartung der Völker und deren Heiland: (Gen 49,10)
komm uns zu retten, unser Herr und Gott. (Jes 37,20)

Stundenbuch

O Immanuel,
unser König und Lehrer, 
du Hoffnung und Heiland der Völker:
o komm, eile und schaffe uns Hilfe, du unser Herr und unser Gott!

Rückblick

O König aller Völker!

Die vorletzte der sieben „O-Antiphonen“ rückt den Herrn als König der Völker, Herrscher der Welt in den Mittelpunkt. Diese Bezeichnung ist ein häufiger Topos der Psalmen, und schärft den Blick für das Geheimnis von Weihnachten: Der König der Welt kommt als einfaches Kind zur Welt, um sich selbst für die Menschen hinzugeben. Diese Bezeichnung reflektiert aber auch die Erweiterung des Heilsbegriffes, denn dieser Messias kommt zu Juden und Heiden. Der lateinische Text der O-Antiphon reflektiert daher eine Passage aus dem Brief des Paulus an die Epheser, die in der deutschen Übersetzung im Stundenbuch nicht mehr angedeutet wird, obwohl sie für die heilsgeschichtliche Bedeutung der Weihnachtsgeschichte bedeutsam ist:

Denkt deshalb daran: Einst wurdet ihr als Heiden, die ihr dem Fleisch nach wart, von den Beschnittenen, deren Beschneidung mit der Hand am Leib vorgenommen wird, Unbeschnittene genannt. In jener Zeit lebtet ihr ohne Christus, wart ausgeschlossen aus dem Gemeinwesen Israels und ohne Anteil am Bund der Verheißung, ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt. Jetzt aber, in Christus Jesus, seid ihr, die ihr vordem fern wart, durch Christi Blut nahegekommen. Er ist unser Friede. Er hat beide Teile geeint und die trennende Scheidewand, die Feindschaft, niedergerissen, da er in seinem Fleisch das Gesetz mit seinen Geboten und Satzungen aufhob. Als Friedenstifter wollte er in seiner Person beide Teile zu einem neuen Menschen umschaffen und beide in einem Leib durch das Kreuz mit Gott versöhnen, indem er in seiner Person die Feindschaft tilgte. So kam er und verkündete Frieden, euch, den Fernen, und Frieden den Nahen. Durch ihn haben wir beide nunmehr in einem Geist freien Zutritt zum Vater. So seid ihr denn nicht mehr Fremdlinge und Einwohner ohne Bürgerrechte, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes. Ihr seid auf dem Fundament der Apostel und Propheten aufgebaut, und Christus Jesus selbst ist der Eckstein. In ihm ist der ganze Bau fest zusammengefügt und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn empor. In ihm werdet auch ihr zu einer Wohnung Gottes im Geist mit aufgebaut. (Eph 2,11-22 in der Übersetzung von P. Konstantin Rösch, O.M.Cap., dank Christoph Wolleks Volksbibel 2000)

Antiphon vom 22. Dezember

Latein

O Rex Gentium,
et desideratus earum,
lapisque angularis, qui facis utraque unum:
veni, et salva hominem, quem de limo formasti.

Übersetzung

O König der Völker, (Jes 11,10, Röm 15,12, Ps 47,9)
und Ersehnter dieser, (Hag 2,8 [Vulgata])
und Eckstein, der du machst beide eins: (Jes 28,16, Eph 2,18ff., 1 Petr 2,6)
komm, und rette den Menschen, den du aus Lehm geformt hast. (Gen 2,7)

Stundenbuch

O König aller Völker,
ihre Erwartung und Sehnsucht; 
Schlußstein, der den Bau zusammenhält:
o komm und errette den Menschen, den du aus Erde gebildet!

Rückblick

O Morgenstern!

Die fünfte der sieben „O-Antiphonen“ stellt den Übersetzer vor einige Schwierigkeiten, den „Oriens“ kann sehr verschiedenes bedeuten: Die aufgehende Sonne; ein am Himmel aufstrahlendes Gestirn; ein Trieb oder Sproß; von Cicero wird es auch als Synonym für „geboren werden“ verwendet. Schließlich kann man auch einen Anklang an die Auferstehung hören. Diese Vieldeutigkeit findet sich auch in der Vulgata wieder, und ist wohl beabsichtigt, weil jede der Wortbedeutungen sinnvoll auf den Messias anwendbar ist. Im Deutschen hat sich die Übertragung als „Morgenstern“ eingebürgert, obwohl es aus dem Text keinen Hinweis darauf gibt. Übrigens ergibt sich ein Bezug des Anfangrufs zur kleinen Apokalypse in Mt 24,27: „sicut enim fulgur exit ab oriente et paret usque in occidente ita erit et adventus Filii hominis.“ — „Denn wie der Blitz bis zum Westen hin leuchtet, wenn er im Osten aufflammt, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein.“

Antiphon vom 21. Dezember

Latein

O Oriens,
splendor lucis aeternae,
et sol justitiae:
veni, et illumina sedentes in tenebris,
et umbra mortis.

Übersetzung

O Aufgang, (Sach 3,8, Sach 6,12, Jes 9,2)
Glanz des ewigen Lichtes, (Ps 89,16, Jes 60,3, Weish 7,26)
und Sonne der Gerechtigkeit: (Mal 4,2)
komm, und erleuchte, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes. (Ps 107,10, Lk 1,79)

Stundenbuch

O Morgenstern,
Glanz des unversehrten Lichtes, 
der Gerechtigkeit strahlende Sonne:
o komm und erleuchte, die da sitzen in Finsternis und im Schatten des Todes!

Durch die Schlußwendung „in Finsternis und im Schatten des Todes“ wird eine Klammer zur Antiphon des Vortags geschaffen. Umso länger man sich mit den Antiphonen beschäftigt, umso mehr interessante Kompositionstechniken fallen einem bei den eigentlich sehr kurzen  Texten ins Auge.

Rückblick