Der nunmehr stattfindende Prozess markiert den tiefen Fall des früheren chinesischen Spitzenpolitiker Bo Xilai. Früher war er Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas, bekleidete hochrangige Positionen bis zum Handelsminister und war Parteichef in der staatsunmittelbaren Stadt Chongqing, einer Verwaltungseinheit mit fast 30 Millionen Einwohnern. In einem Land, in dem alle Macht in Händen der Kommunistischen Partei und ihrer Kader liegt, eine bedeutende Stellung. Nun steht er wegen Korruption und Amtsmißbrauch vor Gericht, seine Frau ist wegen Beteiligung an einem Mord zu einer bedingten Todesstrafe verurteilt worden.
Wie aber werden in der Oligarchie der chinesischen KP neue Führungsleute herangezogen? Wie ist es seit der Machtergreifung Deng Xiaopings gelungen, alle weiteren Generationenwechsel innerhalb des Systems friedlich abzuwickeln? Große Schauprozesse, Verhaftungswellen, Säuberungskampagnen sind unüblich geworden. Deshalb fällt wohl der Prozess gegen Bo Xilai auch so auf. Das überrascht: Wer es gewohnt ist, mit Gewalt und Unterdrückung seine Macht zu sichern, wird diese Methoden wohl nicht nur gegen das Volk im Allgemeinen, sondern gerade innerhalb des Machtapparats verwenden.
Ruixue Jia (San Diego), Masa Kudamatsu (Stockholm) und David Seim (Toronto) haben untersucht, wie chinesische Spitzenpolitiker in ihre Funktionen kamen. Sie verwerfen dabei sowohl die These einer „Meritokratie“, einer auf Verdienst und spürbaren Erfolg gegründeten Laufbahn, aber auch reinen Nepotismus. Die chinesische Polit-Elite ist verwandtschaftlich verflochten, viele ihrer Mitglieder können aber auch auf eine erfolgreiche Tätigkeit blicken. Weil es nicht so einfach ist, das zu messen, haben sich die Studienautoren auf Politiker beschränkt, die eine Zeitlang in Provinzen führend tätig waren, und die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz in dieser Zeit verglichen. Ein entscheidender Faktor ist übrigens, dass Funktionäre eine Zeitlang in einem Bereich gemeinsam tätig waren. Dabei wird Vertrauen aufgebaut, man lernt sich einschätzen – und beruft oft Jahre später die einstigen Kollegen in höhere Positionen, wenn man selbst den Aufstieg geschafft hat.
Diese Verbindung von sozialen Beziehungen und Kompetenz ist laut Meinung der Studienautoren in einem autokratischen System selten anzutreffen, da man aus Gründen des eigenen politischen Überlebens Loyalität gegenüber Kompetenz bevorzugt. Durch den regelmäßigen Generationswechsel ist aber möglich, dass die aktuelle Politgeneration ihnen gut bekannte (Loyalität), aber auch erfolgreiche (Kompetenz) jüngere Politiker befördert, die dank der Aussicht auf die Leitungsfunktionen beim nächsten Generationenwechsel zwar einander, aber nicht der aktuellen Führung gefährlich werden können.
Bo Xilai passt grundsätzlich in dieses Schema. Sein Vater war bereits Politbüro-Mitglied, er selbst war dank Förderung durch Jiang Zemin stv. Gouverneur und dann Gouverneur der Provinz Liaoning, einer wirtschaftlich schnell wachsenden Industrieregion Chinas, und galt als einer der Top-Kandidaten für eine der Führungspositionen, die 2012 zu vergeben waren. Offensichtlich hat er sich durch sein Verhalten nicht nur um diesen Aufstieg, sondern um seine politische Existenz insgesamt gebracht.
[Update] Für einen Kontrapunkt sei dieser Essay von Minxin Pei empfohlen: „Der Mythos der chinesischen Meritokratie“. Darin wird die Behauptung unterstützt, wirtschaftliches Wachstum werde als Kriterium für Beförderungen herangezogen, jedoch ergänzt, dass die entsprechenden Zahlen häufig frisiert seien. Er verweist auch die zahlreichen Fälle von Ämterkauf, die bekanntgeworden sind. Seine Folgerung: „Angesichts solcher systematischen Abwertung tatsächlicher Fähigkeiten glauben nur wenige Chinesen, von den besten und klügsten regiert zu werden.“
Gefällt mir Wird geladen …