Sechs Wochen Urlaub?

Das klingt ja einmal gut: Sechs Wochen Urlaub! Wer sollte dagegen etwas haben? Das ist wohl auch der Grund, warum der Österreichische Gewerkschaftsbund diese Forderung mit der Zustimmung zu einer längeren Normalarbeitszeit junktimiert. Genauer geht es darum, dass der Anspruch auf die sechste Urlaubswoche nicht bloß bei langer Zugehörigkeit zu einem Betrieb entsteht, sondern grundsätzlich nach 25 Berufsjahren.

Es ist ihm verhandlungstechnisch auch nicht übelzunehmen. Die längere Normalarbeitszeit bedeutet für den einzelnen Arbeitnehmer, der davon betroffen ist, ja in der Regel vor allem den Wegfall höher bezahlter und steuerlich begünstigter Überstunden. Die marginal erhöhte Sicherheit des Arbeitsplatzes fällt für den einzelnen nicht so stark ins Gewicht, da sich das Kündigungsrisiko auf viele Köpfe verteilt. Da muss der ÖGB schon eine Gegenleistung vorweisen können, auch wenn er standortpolitisch vielleicht selbst von der höheren Normalarbeitszeit überzeugt ist.

Es gibt aber ein einfaches ökonomisches Problem: Bei gleichbleibendem Lohn bedeutet die sechste Urlaubswoche nach 25 Berufsjahren eine Erhöhung der Arbeitskosten bei älteren Arbeitnehmern — gerade bei denen, die verschiedene Arbeitgeber hatten und vielleicht auch noch haben werden. Wobei je nach Bildungsweg „älter“ in diesem Fall zwischen 41 (!) und 50 beginnen kann. Das Ziel, ältere Menschen in Beschäftigung zu halten, wird damit jedenfalls konterkariert.

Ein zweites, simples Problem: Die Zielgruppe der Urlaubsausweitung ist z.T. eine andere als die der Ausweitung der Normalarbeitszeit. Die beiden Forderungen sind inhaltlich nicht verknüpft, die eine nur für wenige tatsächlich eine Entschädigung für das andere.

Pikettys „Capital“: Das eherne Gesetz der Ungleichheit

Eines der Bücher, das derzeit überall herumgereicht wird, ist Thomas Pikettys „Capital in the Twenty-First Century“. Hunderte Seiten von Tabellen und Graphiken werden aufgebracht, um eine Grundthese des französischen Ökonomen zu untermauern, die er seit Jahren verfolgt: Dass Marktwirtschaften durch eine ehernes Gesetz zu hoher Ungleichheit führten; daher müsse man durch hohe Besteuerung (und wohl komplementärer Transfers) für den Idealzustand annähernd gleich verteilter Vermögen sorgen.

In einer Besprechung des Buches in der „Zeit“ schält Mark Schieritz die Kernthese gut heraus: „Die Konzentration der Vermögen ist eine Art Naturgesetz des Kapitalismus. […] Über die Jahrhunderte hinweg haben sich die Vermögen stets erheblich schneller vermehrt als die Wirtschaftsleistung. Die Erträge auf Anlagen in Aktien, Anleihen oder Immobilien belaufen sich demnach im Schnitt auf viereinhalb bis fünf Prozent pro Jahr, der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts dagegen beträgt langfristig nur ein bis eineinhalb Prozent. Das Einkommen aus Arbeit kann nicht mit dem Einkommen aus bereits angehäuftem Vermögen Schritt halten.“

Dieses eherne Gesetz ist freilich alles andere als ehern, sondern entspringt einfach den Annahmen, die er trifft. Piketty behandelt die Wirtschaft so, als ob es um einen sich selbst backenden Kuchen handeln würde, den man nur nachher auf die Gäste aufteilen müsse. Anders gesagt: Wesentliche Teile der Wirtschaft werden exogen gesetzt. So zum Beispiel die Wachstumsrate und die Sparquote. Irgendwann ist übrigens auch in Pikettys Erzählung mit der Konzentration Schluss, wenn nämlich durch das Sparen gerade einmal das bestehende Kapital-Einkommens-Verhältnis erhalten wird.

Das Konvolut Pikettys, das zwischen inflationsbereinigten und nominellen Daten, absoluten und relativen Messungen hin und her schwankt, krankt noch an etwas: Am Fehlen eines stringenten Modells. Anklänge an Harrod-Domar-Solow sind dafür nicht genug. Wie Ryan Decker schreibt:„Aber letztlich handelt es sich um ein Chart-Buch, mit vielen ökonomischen Daten, aber sehr wenig Ökonomie.“ [Übs.d.A.]

Es bleiben große Fragen ausgespart. Ob es etwa gesellschaftliche Mechanismen der Vermögenskonzentration unabhängig vom Wirtschaftsmodell gibt. Ohne Zweifel war bzw. ist die reale Vermögenskonzentration auch in Gesellschaften hoch, die nicht marktwirtschaftlich organisiert sind. Welchen Einfluss der moderne Sozialstaat gerade auf die Kapitalbildung des Mittelstands hat, wäre auch interessant. Würden etwa die Ansprüche aus der Sozialversicherung als Vermögenswert gezählt, was sie bei einem Kapitaldeckungsverfahren auch wären, sähen einige Tabellen anders aus. Welche Bedeutung eine hohe Kapitalausstattung für die moderne Wirtschaft hat — und auch bereits für die Industrialisierung hatte, mit der Pikettys Analyse beginnt –, könnte in einem 700-Seiten-Werk durchaus auch Beachtung finden.

Wer ein Gefühl für Pikettys Argumentation bekommen will, kann z.B. ein Working Paper lesen, das er gemeinsam mit Gabriel Zucman 2013 verfasst hat. Mit einer deutschen Übersetzung von Pikettys „Capital“ ist zu rechnen.

Wird Wirtschaftskompetenz überbewertet?

Wie wichtig ist wirtschaftspolitische Kompetenz, um die Führung eines Landes zu behalten? Oder sind andere Faktoren entscheidender? Ein Zyniker könnte antworten, bei der Performance der heimischen Politik kann wirtschaftspolitische Kompetenz einfach keine Rolle spielen. Der Realist wird allerdings feststellen, dass man sein Land noch ganz anders gegen die Wand fahren kann und der Wohlstand in unseren Breiten auch mit einer im großen und ganzen verhältnismäßig (!) kompetenten Wirtschaftspolitik zu tun hat.

Um die Frage näher zu beleuchten, entwickeln Shu Yu und Richard Jong-A-Pin in einer Arbeit ein einfaches Konzept. Politische Führer können durch Erhöhung der Wohlfahrt vieler Bürger ihr Amt sichern; durch Erhöhung der Wohlfahrt einer sie unterstützenden kleinen Gruppe; durch Unterdrückung, wobei sie sich auch dafür auf eine davon profitierende Gruppe stützen müssen.

In ihrem kleinen Modell, in dem Wirtschafts- und Repressionskompetenz mit einem Trade-off verbunden sind, bevorzugen die Gruppen, wegen deren Unterstützung die politische Führung überhaupt im Amt ist, dann jemanden mit Repressionskompetenz, wenn dieses Bündnis insgesamt eher klein ist. Effektive und gesicherte Extraktion von Renten ist dann wichtiger als die Steigerung möglicher Renten durch eine wachsende Wirtschaft.

Das geht natürlich Hand in Hand damit, dass es in Demokratien wegen der breiteren Bündnisse, die in der Regel zur Erringung der Macht notwendig sein, Wirtschaftskompetenz wichtiger ist als in Regimen, die sich auf kleinere Bündnisse stützen können bzw. müssen.

Überraschendes Ergebnis: In Demokratien ist Wirtschaftswachstum ein vergleichsweiser schwacher Indikator für fortgesetztes Regieren. In Diktaturen besteht sogar ein negativer Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Amtsdauer, allerdings gibt es einen positiven Zusammenhang, wenn man die Größe des hinter der Regierung stehenden Machtblocks berücksichtigt. Je größer die Regierungskoalition, desto eher kann man nur durch solides Wirtschaftswachstum die nötigen Mittel aufbringen, um die Unterstützer bei der Stange halten zu können.

Trotzdem bleibt als Resumée: Wirtschaftskompetenz wird überbewertet, wenn es um das andauernde politische Überleben geht.

Bastiat: Was ist der Staat?

Dem Menschen sind Mühsal und Leiden zuwider. Und dennoch ist er von der Natur zum Schmerz des Entzuges verurteilt, wenn er nicht die Mühsal der Arbeit auf sich nimmt. Er hat also nur die Wahl zwischen diesen beiden Übeln.

Was tun, um alle beide zu vermeiden? Er hat bisher nur ein Mittel gefunden und wird nie ein anderes finden: Dies ist die Arbeit anderer zu genießen; das heißt dafür zu sorgen, dass die Mühsal und die Befriedigung nicht jeden im natürlichen Verhältnis treffen, sondern alle Mühsal für die einen ist und alle Befriedigung für die anderen. Daher die Sklaverei, daher auch der Raub, welche Form er auch annimmt: Krieg, Gaunerei, Gewalttat, Beschränkung, Betrug, etc. – monströse Missstände, aber folgerichtig aus dem Gedankengut, das sie aufgebracht hat. Man muss die Unterdrücker hassen und bekämpfen, man kann nicht sagen, sie seien absurd.

Der Unterdrücker wirkt nicht mehr direkt durch seine eigenen Kräfte auf den Unterdrückten. Nein, unser Gewissen ist dafür zu empfindlich geworden. Es gibt wohl noch den Tyrann und das Opfer, aber zwischen sie stellt sich ein Vermittler – der Staat – das heißt das Gesetz selbst. Was könnte besser unsere Skrupel zum Schweigen bringen und – das schätzen wir vielleicht noch höher – Widerstände besiegen? Also wenden wir uns alle mit irgendeinem Anspruch, unter dem einen oder anderen Vorwand, an den Staat. Wir sagen ihm: „Ich finde zwischen meinem Vergnügen und meiner Arbeit kein Verhältnis, das mich zufriedenstellt. Ich würde gerne, um das erwünschte Gleichgewicht herzustellen, ein kleinwenig von dem Gut anderer nehmen. Aber das ist gefährlich. Könnten Sie mir die Sache nicht einfacher machen? Können Sie mir nicht eine gute Stelle geben? Oder vielleicht die Industrie meiner Konkurrenten behindern? Oder vielleicht auch mir gratis Kapital zur Verfügung stellen, das Sie seinen Besitzern wegnehmen? Oder meine Kinder auf öffentliche Kosten aufziehen? Oder mir Förderungsprämien zugestehen? Oder mir Wohlstand zusichern, wenn ich fünfzig bin? Auf diese Weise würde ich ganz ruhigen Gewissens zum Ziel kommen, denn das Gesetz selbst hätte für mich gehandelt, und ich hätte alle Vorteile des Raubes ohne sein Risiko und seinen schlechten Ruf.

Da wir einerseits sicher alle an den Staat irgendeine ähnliche Forderung richten, und andererseits erwiesen ist, dass der Staat nicht die einen zufriedenstellen kann ohne die Arbeit der anderen zu vermehren, glaube ich mich berechtigt – in Erwartung einer anderen Definition des Staates – hier die meine zu geben. […]

Der Staat ist die große Fiktion, nach der sich jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben.

— Frédéric Bastiat (*1801 † 1850)

Der französische Ökonom Frédéric Bastiat war ein scharfsichtiger und -züngiger Beobachter, ein glühender Verfechter des klassischen Liberalismus, ein unermüdlicher Kämpfer gegen ökonomische Unbildung. Wenn man sich die heutige Entwicklung Frankreichs ansieht, muss man sagen: Vergebens.

Der obige Auszug aus der Schrift „Der Staat“ entstammt der Übersetzung Marianne Diems aus dem Französischen. Gemeinsam mit Claus Diem betreibt sie unter bastiat.de eine sehr informative Website über Bastiat, einschließlich der Übersetzung wesentlicher Schriften des Franzosen, der in kurzer Zeit ein reiches Oeuvre verfasste.

Darunter befindet sich z.B. seine berühmte Petition der Kerzenmacher, die zum Schutz ihrer Produktion das Schließen aller Fenster verordnet haben wollen. Oder sein Artikel „Was man sieht und was man nicht sieht“ mit dem Beispiel der eingeschlagenen Fensterscheibe als Illustration, bei der man zwar den positiven Effekt für den Glasermeister sieht, aber nicht den negativen Effekt für den Auftraggeber, der mit dem Geld lieber etwas anderes gemacht hätte, und denjenigen, der diesen anderen Auftrag erhalten hätte, etwa der Schuster.

Wer sich für sein Werk interessiert, wird auch auf der Website bastiat.org fündig, die auf Französisch, Englisch und Spanisch Informationen über den Autor und Texte Bastiats dokumentiert.

Was ist schlimmer als ein Crack-rauchender Randalierer?

James Delingpole ist ein Widerspruchsgeist, keine Frage. Sein unkonventioneller Zugang zur Causa des Bürgermeisters von Toronto, Rob Ford, die auf der ganzen Welt Eingang in die Schlagzeilen gefunden hat, ist aber bedenkenswert.

Der Brite bringt seine Meinung so auf den Punkt:

[…] Sicher, ein Crack-rauchender, betrunkener Bürgermeister ist nicht ideal. Aber ich bin ehrlich gesagt viel mehr darin interessiert, was ein Politiker in seinem öffentlichen Leben ausheckt, als in seinen privaten. […]

Um es anders zu sagen, wen würden sie eher über die alltäglichen Dinge ihres Lebens regieren lassen?

a) Einen Crack-rauchenden Randalierer, der die Steuern niedrig gehalten hat, die öffentlichen Dienste effizienter gemacht hat und ansonsten sich mit seinen schmutzigen Hände aus Deinen Angelegenheiten herausgehalten hat?

b) Ein blitzsauberer Weltverbesserer, der, voll Vertrauen in seine eigene moralische Redlichkeit, es für gerechtfertigt hält zu versuchen, jedes kleinste Detail Deiner Angelegenheiten minutiös mit Steuern, Regulierungen und Vorschriften zu kontrollieren.

Provokant, aber eine Überlegung wert. Warum messen wir den Charaden der Politiker so viel Bedeutung zu, in denen sie sich als anständig, bescheiden, ehrlich etc. inszenieren, wenn wir gleichzeitig wissen, dass man mit diesen Eigenschaften leider selten politischen Erfolg hat. Warum konzentrieren wir uns nicht auf die tatsächlichen Resultate ihrer Politik? Eine Vermutung: Weil wir dann noch deprimierter über den Zustand der Politik wären …

(Hinweis über National Review)

Wie man unsinnige Ökonomie-Artikel erkennt …

Wer öfter einmal Artikel in Zeitungen oder auch in manchen Internetmedien liest, die sich mit den Wirtschaftswissenschaften beschäftigen, kann meist nur die Haare raufen.  Da werden munter  Stereotypen aus der Scheingegner–Sammlung ausgebreitet und im Dienste der jeweils eigenen Weltanschauung völlig jenseitige Ansichten darüber verbreitet, was der Inhalt der Wirtschaftswissenschaften denn wirklich sei. Meist läuft es darauf hinaus, dass die Ökonomen, zumindest die „Mainstream“-Ökonomen, ziemlich dumm sind, weil sie die politische Forderung XYZ nicht als logische Konsequenz ökonomischer Betrachtung erkennen.

Chris Auld, ein kanadischer Ökonom, hat nun 18 Merkmale zusammengefasst, an denen man die Ergüsse solcher Narren auf dem Schiff der Publizistik erkennen kann.

Darunter befinden sich Punkte wie die Reduktion der Wirtschaftswissenschaften auf makroökonomische Prognosen; die Behauptung, die „Mainstream-Ökonomie“ wäre „marktfundamentalistisch“; oder die freizügige Verwendung des Wortes „neoliberal“ und „neoklassisch“. Dass man absichtlich oder unabsichtlich die Fachbedeutung von Wörtern verfälscht, und etwa Begriffen wie „effizientem Markt“ oder „rationaler Akteur“ neue Inhalte gibt und darauf seine Kritik stützt, ist auch bei uns eine geläufige Strategie.

Nur ein Beispiel: Ein Marktteilnehmer handelt dann rational, wenn (1) er für jede paarweise Wahlmöglichkeit einordnen kann, ob er eines dem anderen vorzieht oder zwischen beiden indifferent ist, und wenn (2) er Gut a dem Gut b vorzieht und Gut b gegenüber Gut c vorzieht, er dann Gut a auch Gut c gegenüber vorzieht. Diese Bedingungen nennt man die Vollständigkeits- und die Transitivitätsbedingung. Sie sagen nichts darüber hinaus, ob eine Person „vernünftig“ handelt, sondern sagen lediglich etwas über ihre Präferenzordnung aus. Trotzdem wird den Wirtschaftswissenschaften oft unterstellt, der homo oeconomicus sage aus, dass alle Menschen vernünftig handeln.

(via Cardiff Garcia)

Wie wird man Spitzenpolitiker in China?

Der nunmehr stattfindende Prozess markiert den tiefen Fall des früheren chinesischen Spitzenpolitiker Bo Xilai. Früher war er Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas, bekleidete hochrangige Positionen bis zum Handelsminister und war Parteichef in der staatsunmittelbaren Stadt Chongqing, einer Verwaltungseinheit mit fast 30 Millionen Einwohnern. In einem Land, in dem alle Macht in Händen der Kommunistischen Partei und ihrer Kader liegt, eine bedeutende Stellung. Nun steht er wegen Korruption und Amtsmißbrauch vor Gericht, seine Frau ist wegen Beteiligung an einem Mord zu einer bedingten Todesstrafe verurteilt worden.

Wie aber werden in der Oligarchie der chinesischen KP neue Führungsleute herangezogen? Wie ist es seit der Machtergreifung Deng Xiaopings gelungen, alle weiteren Generationenwechsel innerhalb des Systems friedlich abzuwickeln? Große Schauprozesse, Verhaftungswellen, Säuberungskampagnen sind unüblich geworden. Deshalb fällt wohl der Prozess gegen Bo Xilai auch so auf. Das überrascht: Wer es gewohnt ist, mit Gewalt und Unterdrückung seine Macht zu sichern, wird diese Methoden wohl nicht nur gegen das Volk im Allgemeinen, sondern gerade innerhalb des Machtapparats verwenden.

Ruixue Jia (San Diego), Masa Kudamatsu (Stockholm) und David Seim (Toronto) haben untersucht, wie chinesische Spitzenpolitiker in ihre Funktionen kamen. Sie verwerfen dabei sowohl die These einer „Meritokratie“, einer auf Verdienst und spürbaren Erfolg gegründeten Laufbahn, aber auch reinen Nepotismus. Die chinesische Polit-Elite ist verwandtschaftlich verflochten, viele ihrer Mitglieder können aber auch auf eine erfolgreiche Tätigkeit blicken. Weil es nicht so einfach ist, das zu messen, haben sich die Studienautoren auf Politiker beschränkt, die eine Zeitlang in Provinzen führend tätig waren, und die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz in dieser Zeit verglichen. Ein entscheidender Faktor ist übrigens, dass Funktionäre eine Zeitlang in einem Bereich gemeinsam tätig waren. Dabei wird Vertrauen aufgebaut, man lernt sich einschätzen – und beruft oft Jahre später die einstigen Kollegen in höhere Positionen, wenn man selbst den Aufstieg geschafft hat.

Diese Verbindung von sozialen Beziehungen und Kompetenz ist laut Meinung der Studienautoren in einem autokratischen System selten anzutreffen, da man aus Gründen des eigenen politischen Überlebens Loyalität gegenüber Kompetenz bevorzugt. Durch den regelmäßigen Generationswechsel ist aber möglich, dass die aktuelle Politgeneration ihnen gut bekannte (Loyalität), aber auch erfolgreiche (Kompetenz) jüngere Politiker befördert, die dank der Aussicht auf die Leitungsfunktionen beim nächsten Generationenwechsel zwar einander, aber nicht der aktuellen Führung gefährlich werden können.

Bo Xilai passt grundsätzlich in dieses Schema. Sein Vater war bereits Politbüro-Mitglied, er selbst war dank Förderung durch Jiang Zemin stv. Gouverneur und dann Gouverneur der Provinz Liaoning, einer wirtschaftlich schnell wachsenden Industrieregion Chinas, und galt als einer der Top-Kandidaten für eine der Führungspositionen, die 2012 zu vergeben waren. Offensichtlich hat er sich durch sein Verhalten nicht nur um diesen Aufstieg, sondern um seine politische Existenz insgesamt gebracht.

[Update] Für einen Kontrapunkt sei dieser Essay von Minxin Pei empfohlen: „Der Mythos der chinesischen Meritokratie“. Darin wird die Behauptung unterstützt, wirtschaftliches Wachstum werde als Kriterium für Beförderungen herangezogen, jedoch ergänzt, dass die entsprechenden Zahlen häufig frisiert seien. Er verweist auch die zahlreichen Fälle von Ämterkauf, die bekanntgeworden sind. Seine Folgerung: „Angesichts solcher systematischen Abwertung tatsächlicher Fähigkeiten glauben nur wenige Chinesen, von den besten und klügsten regiert zu werden.“