Taugt die Zerstörung des Tempels als Eichpunkt für die Evangeliendatierung?


In der modernen deutschsprachigen Bibelwissenschaft ist die Spätdatierung des Neuen Testaments fester Bestandteil des Lehrkanons. Ein wesentliches Argument dafür ist, dass die Evangelien erst nach der Zerstörung des Tempels geschrieben worden sein können, weil dieser Vorgang in den Evangelien — wenn auch nur sehr allgemein — vorhergesagt würde. Siehe z.B. bibelwissenschaft.de, das den akademischen Konsens in Deutschland ganz gut wiedergibt.

So steht im Markusevangelium, das heutzutage allgemein für das älteste Evangelium gehalten wird1, die Voraussage:

Als Jesus den Tempel verließ, sagte einer von seinen Jüngern zu ihm: Meister, sieh, was für Steine und was für Bauten! Jesus sagte zu ihm: Siehst du diese großen Bauten? Kein Stein wird auf dem andern bleiben, alles wird niedergerissen. […] Wenn ihr aber den unheilvollen Gräuel an dem Ort seht, wo er nicht stehen darf – der Leser begreife -, dann sollen die Bewohner von Judäa in die Berge fliehen; wer gerade auf dem Dach ist, soll nicht hinabsteigen und ins Haus gehen, um etwas mitzunehmen; wer auf dem Feld ist, soll nicht zurückkehren, um seinen Mantel zu holen. Weh aber den Frauen, die in jenen Tagen schwanger sind oder ein Kind stillen. Betet darum, dass dies alles nicht im Winter eintritt. Denn jene Tage werden eine Not bringen, wie es noch nie eine gegeben hat, seit Gott die Welt erschuf, und wie es auch keine mehr geben wird. (Mk 13,1.14-19)

Diese Stelle findet Parallelen bei Matthäus in Kapitel 24 und Lukas in Kapitel 21.

Nun lasse ich einmal den berechtigten Einwand beiseite, dass Theologen nicht von vornherein die Möglichkeit einer Prophezeiung ausschließen sollten. Selbst innerhalb des Versuchs, die Bibel theologisch unter dem Primat eines Ausschlusses der Transzendenz zu untersuchen, ist die Position der Spätdatierung keineswegs so gesichert, wie suggeriert wird.

Eine apokalyptische Welt

Prophetien sind namensgemäß bei den Propheten in großer Zahl zu finden, von den Gottesknechtliedern Jesajas bis zur Bethlehem-Vision des Micha. Die darüber hinausgehende, endzeitliche apokalyptische Literatur war im Judentum um Christi Geburt wiederum weit verbreitet. Sie findet sich bereits im Alten Testament z.B. im Buch Daniel und in vielen außerbiblischen Büchern wie dem 4. Buch Esra. In diesem Werk, das in Liturgie und Überlieferung Spuren hinterlassen hat, finden sich ausführliche Endzeitbeschreibungen, die ähnliche Motive aufweisen wie die kleine Apokalypse des Markus.

Das Genre war also bekannt und wurde nicht nur im Christentum, sondern auch im Judentum in der Antike noch eine Zeitlang weitergeführt, siehe etwa die verschiedenen Apokalypsen des Baruch. Die Vorhersage einer Zerstörung des Tempels befindet sich bereits mehrmals im Alten Testament, so z.B. in Jeremia 7. Der Topos wurde, wenn wir dem Geschichtsschreiber Flavius Josephus glauben dürfen, vor der Zerstörung des Tempels verwendet: Josephus berichtet für das Jahr 62 von Jesus Sohn des Ananias, der für seine Untergangsprophezeiung ebenfalls gegeißelt wurde.

Die Zeit der Herodianer und der römischen Herrschaft in Judäa wurde nach der unter den Hasmonäern erlangten Freiheit als Rückschritt, als bedrängend und bedrückend empfunden, die Kollaboration der Tempelpriester mit den Römern und die im Tempel grassierende Korruption als Frevel. Ob es in dieser Zeit angesichts der vielen Gruppen mit z.T. gewalttätigen Programmen allzuviel Prophetie bedurfte, um eine Zerstörung Jerusalems durch die Römer vorherzusagen, ist schwer zu sagen.

Warum so schüchtern?

Nun ist nicht einmal klar, ob im Text des Markusevangeliums überhaupt die Zerstörung des Tempels referenziert wird, da er und seine Jünger den Tempel ja gerade verlassen und somit die umgebenden Prachtbauten ansehen. Die Parallelstellen bei Matthäus und Lukas handeln aber zweifellos vom Tempel selbst. Auffällig ist jedoch, dass alle vier Evangelisten die Gelegenheit verstreichen lassen, triumphierend darauf hinzuweisen, dass der Tempel tatsächlich zerstört ist. Stattdessen berichten sie übereinstimmend, dass Jesus vom Niederreißen und Wiederaufbau des Tempels gesprochen und damit die Auferstehung gemeint habe.

Anders Justin der Märtyrer, der in seinem um 160 geschriebenen Dialog mit dem Juden Trypho die Zerstörung Jerusalems als Argument heranzieht, um Christus als das wahre und endgültige Opferlamm darzustellen, da nun in Jerusalem keine Opfer mehr vollzogen werden können. In spätantiken Predigten wird dann selbstverständlich die Verwirklichung der Prophetie ausgekostet.

Warum sollen die Evangelisten so schüchtern gewesen sein, diese eindrucksvolle Bestätigung Jesu nicht zu erwähnen, sondern stillschweigend vorauszusetzen? Und ausgerechnet das Evangelium, das regelmäßig als das jüngste angesehen wird, nämlich Johannes, verzichtet überhaupt auf die Erwähnung der Prophezeiung, wiewohl die Tempelreinigung erwähnt wird.

Freilich ist ein argumentum ex silentio problematisch. Vielen gibt jedoch auch die Stelle in Joh 5,2 zu denken, die im Präsens berichtet: „In Jerusalem gibt es beim Schaftor einen Teich, zu dem fünf Säulenhallen gehören; dieser Teich heißt auf Hebräisch Betesda.“ Seit der Zerstörung Jerusalems gibt es dieses Tor und die Säulenhallen nicht mehr. Ebenso interessant die Beschreibung der Sadduzäer in Lk 20,27 (sowie Mt 22,23; Mk 12,18) als existierende Gruppe, wiewohl sie mit dem Jüdischen Krieg vernichtet wurde. Oder die präsentische Beschreibung des Blutackers, der „bis heute“ so heiße, in Mt 27,8. Sehr eindringlich hier die Schilderung der Eintreibung der Tempelsteuer in Mt 17,24-27, die offenbar keiner näheren Erläuterung bedurfte2. Allgemein schreiben die Evangelisten nicht wie jemand, für den Jerusalem nur noch eine verlassene Ruine ist, sondern für den die Stadt immer noch ein Bezugspunkt ist.

Beispiel Finanzkrise

Schließlich darf man nicht vergessen, dass auch wir heutzutage ständig mit Vorhersagen konfrontiert sind, die keineswegs übernatürliche Quellen haben. Winston Churchill sah einen Eisernen Vorhang auf Europa niederfallen, Samuel Huntington rechnete mit einem schweren Konflikt in der Ukraine und mit der islamischen Welt, Nassim Nicholas Taleb warnte vor der Finanzkrise. Muss man deswegen die Rede Churchills umdatieren, das Publikationsdatum von Huntingtons „Kampf der Kulturen“ für falsch halten, Talebs Buch für eine Fälschung aus der Zeit der Krise?

Eben.

Wir wissen auch nicht, wie die überlieferte Prophezeiung vorher aufgefasst wurde. Immerhin gab es ja, wie schon erwähnt, eine kleine Tradition solcher Untergangsprophetien, deren Zweck nicht unbedingt die Voraussage eines konkreten Ereignisses war, sondern die moralische Umkehr der Zuhörer.

Es gibt viele Gründe, an einer apodiktischen späten Datierung des Neuen Testaments zu zweifeln. Die Tempelprophezeiung taugt als Indikator einer späten Evangeliendatierung jedenfalls nicht.


  1. Zu den diversen Theorien, in welcher Reihenfolge die Evangelien entstanden sind, siehe die umfassende Einführung von Stephen Carlson auf der „Synoptic Problem Website“
  2. Durchaus möglich, dass mit der Perikope eigentlich die Frage behandelt werden sollte, ob (jüdische) Anhänger Jesu Tempelsteuer zahlen sollten. 

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